John Stuart Mill (* 20. Mai 1806 in Pentonville, Vereinigtes Königreich; † 8. Mai 1873 in Avignon, Frankreich) war ein britischer Philosoph, Politiker und Ökonom, einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts.
Mehr über John Stuart Mill bei Wikipedia
John Stuart Mill glaubte, dass wir nicht unabhängige Dinge wahrnehmen sondern Farben und Formen.
Etwas, was existiert, gleichviel ob wir uns seiner bewusst sind oder nicht, und was immer viereckig ist (oder von einer anderen gegebenen Gestalt), gleichviel ob es uns viereckig oder rund erscheint: dies bildet zusammen unsere Idee der äusseren Substanz … Alles dies ist nun nach der psychologischen Theorie nur die Form, die durch die bekannten Assoziationsgesetze den durch Erfahrung erlangten Vorstellungen oder Begriffen zufälliger Wahrnehmungen aufgedrückt wird.
(S. 148)
Dinge sind weder Abbilder noch Symbole oder Ideen. Wir gelangen zu ihnen durch Schlussfolgerungen.
Wir sehen das, was wir zu schliessen gelernt haben, und können nicht anders, sondern müssen es sehen, selbst wenn wir wissen, dass der Schluss falsch und die scheinbare Wahrnehmung eine Täuschung ist.
(S. 147)
Schlussfolgerungen ziehen wir aufgrund von Sinneserfahrungen, die zugleich oder in unmittelbarer Folge auftreten.
Wir wollen nun [der Realität der Materie] nach der psychologischen Methode näherzukommen suchen … Erstens postuliert [diese Theorie], dass die menschliche Seele die Fähigkeit der Erwartung hat; … dass wir, nachdem wir tatsächlich Wahrnehmungen gehabt haben, fähig sind, die Vorstellung von möglichen Wahrnehmungen zu bilden … Zweitens postuliert sie die Gesetze der Ideen-Assoziation … 1. Ähnliche Phänomene haben das Bestreben, zusammengedacht zu werden. 2. Phänomene, die in enger Kontiguität miteinander entweder erfahren oder vorgestellt worden sind, haben das Bestreben zusammengedacht zu werden. Die Kontiguität ist von zweierlei Art: Gleichzeitigkeit und unmittelbare Aufeinanderfolge. Tatsachen, die gleichzeitig erfahren oder gleichzeitig gedacht worden sind, rufen sich gegenseitig in Gedanken zurück. Von Tatsachen, die in unmittelbarer Aufeinanderfolge erfahren oder gedacht worden sind, ruft die vorhergegangene oder der Gedanke an sie den Gedanken an die nachfolgende zurück, aber nicht umgekehrt. 3. Assoziationen, die durch Kontiguität hervorgebracht worden sind, werden durch Wiederholung gewisser und schneller … 4. … Dinge, die wir unfähig sind, uns getrennt zu denken, erscheinen uns auch unfähig getrennt zu existieren
(S. 146f.)
Wir sehen künstlich, dass das, was wir sehen, ein Buch oder ein Stein ist, und jeder von diesen Vorgängen ist nicht nur ein Schluss, sondern eine Menge von Schlüssen aus den Merkmalen, die wir sehen, auf Dinge, die nicht sichbar sind. Wir sehen das, was wir zu schliessen gelernt haben, und können nicht anders, sondern müssen es sehen
(S. 147)
Wiederholtes Schliessen macht uns Wahrnehmungsmöglichkeiten bewusst.
Ich sehe ein weisses Stück Papier auf einem Tisch. Ich gehe in ein anderes Zimmer … Obwohl ich aber aufgehört habe, das Papier zu lesen, bin ich doch überzeugt, dass es noch dort ist. Ich habe nicht mehr die Wahrnehmungen, die es in mir hervorrief; ich glaube jedoch, dass ich sie, wenn ich mich wieder in die Umstände begebe … d.h. wenn ich in das Zimmer zurückkehre, von neuem haben werde; und ferner, dass es keinen dazwischenliegenden Moment gegeben hat, in dem dies nicht der Fall gewesen sein würde … Diese Möglichkeiten, die bedingte Gewissheiten sind, erfordern einen besonderen Namen, um sie von bloss vagen Möglichkeiten zu unterscheiden, für deren Zuverlässigkeit die Erfahrung keine Gewähr leistet.
(S. 148f.)
Die ganze Klasse möglicher Wahrnehmungen bildet einen dauernden Hintergrund für jede einzelne oder mehrere von denjenigen, die in einem gegebenen Moment wirklich sind; und die Möglichkeiten werden in Relation zu den wirklichen Wahrnehmungen wie eine Ursache zu ihren Wirkungen gedacht
(S. 151)
In der Gewissheit dieser Möglichkeiten, so dachte Mill, konstituieren sich für uns die Dinge und Tatsachen.
Die Materie kann also als eine permanente Möglichkeit von Wahrnehmungen definiert werden. Wenn man mich fragt, ob ich an die Materie glaube, so frage ich, ob der Fragende diese Definition akzeptiert. Wenn er sie akzeptiert, so glaube ich an die Materie wie alle Berkeleyaner; in jedem anderen Sinne als in diesem glaube ich nicht daran … an permanente Wahrnehmungsmöglichkeiten glauben [heisst] an die Materie glauben
(S. 152f.)
Die Gegenwart des Gegenstandes (was nichts weiter ist als die unmittelbare Gegenwart der Möglichkeiten) kann uns durch eben die Wahrnehmung bekanntgegeben werden, die wir auf ihn als seine Wirkung beziehen.
(S. 156f.)
Überlegung
- Aber warum sollte es die Dinge geben, weil wir auf sie schliessen? Vielleicht können wir nur schlussfolgern, weil es sie gibt.
- Unklar bleibt zudem der Status der Wirklichkeit, wenn diese nur aus Farben und Formen besteht.
Literatur
Fumerton, R., 2009. “Mill’s Logic, Metaphysics, and Epistemology”, in Mill, W. Donner, and R. Fumerton, Malden, MA: Wiley-Blackwell. 147–95.
Fumerton, R., 2017. “Mill’s Epistemology”, in A Companion to John Stuart Mill, C. Macleod, and D. Miller (eds.), Oxford: Wiley-Blackwell, 192–206.
Macleod, C., 2013. “Was Mill a Non-Cognitivist?”, The Southern Journal of Philosophy 51: 206–23.
Macleod, C., 2014. “Mill on the Epistemology of Reasons: A Comparison with Kant”, in John Stuart Mill’s Platonic Heritage: Happiness Through Character, A. Loizides (ed.), Plymouth: Lexington Books, 151–69.
Macleod, C., 2016. “Mill’s Antirealism”, Philosophical Quarterly 66(263): 261–279.
Scarre, G., 1989. Logic and Reality in the Philosophy of John Stuart Mill, London: Kluwer Academic Publishers.
Textstellen zitiert nach: Wiesing, Lambert (Hg.), 2015. Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Soweit nicht anders angegeben beziehen sich alle Seitenangaben auf diese Ausgabe.
Biographische Information aus der deutschen Wikipedia.
Literatur aus Wiesing, 2015, sowie aus der Stanford Encyclopedia of Philosophy.