Seit biblischen Zeiten ist die Ehre der Frau nicht privat sondern ein öffentliches Gut. Das kann lebensgefährlich sein – vor allem für die Frau. Davon erzählen die Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament und die Bilder von Rembrandt, Rubens und Artemisia Gentileschi.
Die Geschichte der Lucretia ist eine römische Sage, die Geschichte einer ehrbaren Ehefrau, die von einem Freund ihres Mannes vergewaltigt wird und sich aus Scham und aus einem Prinzip von Ehre heraus selbst tötet.
Livius. Römische Geschichte. Buch 1, 58:
Wenige Tage danach kam Sextus Tarquinius ohne Wissen des Collatinus mit nur einem Begleiter nach Collatia. Dort nahm man ihn freundlich auf, da man von seiner Absicht nichts ahnte, und führte ihn nach dem Mahl in das Gästezimmer.
Als er den Eindruck hatte, es sei ringsum hinreichend sicher und alles liege in tiefem Schlaf, trat er, glühend vor Verlangen, mit blankem Schwert zu der schlafenden Lucretia, drückte die Frau mit der linken Hand aufs Bett und sagte: „Still, Lucretia! Ich bin es, Sextus Tarquinius. Ich habe eine Waffe in der Hand. Du stirbst, wenn du einen Laut von dir gibst.“ Als die Frau, aus dem Schlaf aufgeschreckt, nirgends Hilfe, nur den drohenden Tod vor Augen sah, da gestand ihr Tarquinius seine Liebe, bettelte, mischte Drohungen unter seine Bitten und suchte mit den verschiedensten Mitteln auf das Herz der Frau einzuwirken. Als er sah, daß sie fest blieb und nicht einmal durch die Todesangst zu bewegen war, brachte er zu der Angst auch noch die Schande ins Spiel; wenn sie tot sei, erklärte er ihr, werde er einen Sklaven töten und nackt neben sie legen, damit es heiße, sie sei bei schmutzigem Ehebruch getötet worden.
Nachdem durch diese schreckliche Drohung die wilde Begierde über die beharrliche Sittsamkeit triumphiert hatte, als wenn sie wirklich den Sieg davongetragen hätte, und Tarquinius, außer sich vor Freude, die Ehre der Frau bezwungen zu haben, wieder weggeritten war, sandte Lucretia in ihrem Schmerz über diese so verruchte Tat ein und denselben Boten nach Rom zu ihrem Vater und nach Ardea zu ihrem Mann, sie sollten jeder mit einem treuen Freund kommen; es müsse sein, und Eile tue not; etwas Furchtbares sei geschehen.
Spurius Lucretius kam mit Publius Valerius, einem Sohn des Volesius, Collatinus mit Lucius Junius Brutus, mit dem er gerade auf dem Rückweg nach Rom gewesen war, als der Bote seiner Frau ihn traf. Sie fanden Lucretia in tiefer Trauer in ihrem Schlafzimmer sitzen. Beim Eintreffen der Ihren kamen ihr die Tränen, und als ihr Mann sie fragte: „Ist alles gut?“, gab sie zur Antwort: „Keineswegs! Denn wie kann es gut bestellt sein um eine Frau, die ihre Ehre verloren hat. Du findest die Spuren eines fremden Mannes in deinem Bett, Collatinus. Aber nur mein Leib ist befleckt, mein Herz ist frei von Schuld; mein Tod wird es beweisen. Doch versprecht mir in die Hand, daß der Ehebrecher nicht ungestraft davonkommt. Es ist Sextus Tarquinius, der, aus einem Gastfreund zum Feind geworden, sich letzte Nacht bewaffnet mit Gewalt hier einen Genuss verschafft hat, der mir und – wenn ihr Männer seid – auch ihm Verderben bringen wird.“
Der Reihe nach gaben alle ihr Wort. Sie trösteten die Tiefbekümmerte, indem sie die Schuld von ihr, die gezwungen worden war, auf den abwäIzten, der das Verbrechen begangen hatte: der Geist sündige, nicht der Leib, und wo es keine Absicht gegeben habe, da gebe es auch keine Schuld.
„Seht ihr zu“, sagte sie, „was jener verdient. Ich kann mich zwar von der Sünde freisprechen, der Strafe aber will ich mich nicht entziehen; und es soll künftig keine Frau, die ihre Ehre verloren hat, unter Berufung auf Lucretia weiterleben.“ Damit stieß sie sich ein Messer, das sie unter ihrem Kleid verborgen hatte, ins Herz, sank über der Wunde zusammen und fiel sterbend zu Boden. Ihr Mann und ihr Vater schrieen auf.
Rembrandts Sicht

Die Geschichte der Lucretia ist von Malern überwiegend in drei Szenen dargestellt worden: Einmal in der Szene, in der Tarquinius Lucretia vergewaltigt, einmal im Selbstmord und einmal in der Trauer nach ihrem Tod. Wollten die Maler nah am Text bleiben, dann bedeutete das, dass sie, ausser bei der Vergewaltigung, neben Lucretia noch eine Reihe weiterer Figuren darstellen mussten, zum Beispiel ihren Mann und ihren Vater. Interessanterweise haben sich viele Künstler, die die Selbstmord-Szene malten, abweichend vom Text dafür entschieden, Lucretia ganz allein darzustellen. Möglicherweise liegt das daran, dass ein Selbstmord in Gegenwart anderer Leute malerisch schwierig zu gestalten ist. Denn sind die übrigen Figuren weit entfernt, dann bekommt das Geschehen leicht den Anschein einer Aufführung. Sind sie dagegen nahe, dann fragtst du dich, warum sie nicht eingreifen konnten.
Natürlich ist auch wahrscheinlich, dass es bei der Selbstmord-Szene oft einfach nur darum ging, den nackten weiblichen Körper darzustellen. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass viele Darstellungen lediglich den Dolch auf der Haut oder sein erstes Eindringen in den Körper wiedergeben, aber nicht den Tod.
Rembrandt gelingt in der hier vorgestellten Version der Lucretia eine äußerst innovative Lösung. Zunächst ist seine Lucretia nicht nackt, sondern vielmehr in ein ziemlich hochgeschlossenes weisses Hemd gekleidet, über dem sie einen leichten Morgenmantel und eine Stola aus dickerem Stoff trägt.
Obwohl das Hemd dünn ist, wird kaum der Ansatz des Busens erkennbar. Hier steht eindeutig nicht die Sexualität des Opfers im Vordergrund.
In ihrer Rechten hält Lucretia den Dolch, der emblematisch für das Sujet ist. Aber im Unterschied zu fast allen anderen Lösungen wählt Rembrandt hier nicht den Moment vor dem tödlichen Stoß, sondern den Moment danach. Wir sehen die sterbende Lucretia, deren Blut in das Weiss des Stoffes auf ihrer linken Seite strömt. Noch hält sie sich mit der Hand an einer Kordel fest, noch steht sie. Aber ihre Gesichtszüge sind bereits erschlafft. In kaum einem Moment werden ihre Augen brechen.
Rubens’ Sicht

Rubens nimmt sich in seiner Version die Vergewaltigungs-Szene vor. Ganz im Mittelpunkt steht der sich windende, nackte Körper der Lucretia, der weiss aus dem Gemälde aufleuchtet. Um die moralische Maske nicht ablegen zu müssen, hat Rubens seinem Tarquinius noch allerlei allegorische Figuren beigegeben, die ihn hin- und hergerissen zwischen guten und bösen Dämonen zeigen.
Artemisia Gentileschis Sicht

Artemisia Gentileschi hat eine besonders realistische Szene geschaffen. Sie verlegt die entscheidenden Ereignisse offenbar in die Zeit unmittelbar nachdem die Vergewaltigung stattgefunden hat. Tarquinius hat sich bereits getrollt, Lucretias Kleidung und Haare sind in Unordnung, das Bett ist zerwühlt. Sie ist derangiert, aber nicht nackt.
Sie sieht nicht so sexy aus, wie Rubens’ Lucretia, und auch nicht so elegant, wie Rembrandts. Du erkennst leicht, dass ihr gerade etwas Schlimmes zugestossen sein muss. Sie ist überhaupt nicht attraktiv (offenbart der männliche Blick von Rembrandt und Rubens nicht mehr als alles andere die Vorstellung, dass eine Frau auch bei oder nach einer Vergewaltigung attraktiv sein sollte?).
Im Gesicht von Lucretia siehst du keine Träne. Sie ist nicht aufgelöst oder verzweifelt. Sie ist vielmehr sehr wütend. Auf der Stirn, zwischen ihren Augenbrauen haben sich Zornesfalten gebildet. Und dieser Zorn darüber, etwas mit sich machen lassen zu müssen, was sie nicht wollte, scheint bei Artemisia Gentileschi viel eher der Grund für Lucretias Selbstmord zu sein als etwa die Entehrung und die drohende Schande.
„Die Ehre der Frau“ – alle Posts:
Samson und Delilah
Lucretia
Susanna im Bade
Bei der Recherche habe ich mich auf folgende Quellen gestützt:
- Dash, Mike, „Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte“, 1999, München: Verlagshaus Goethestraße.
- Garrard, Mary D., „Artemisia Gentileschi“, 1989, Princeton: Princeton University Press.
- Livius, Titus, „Römische Geschichte“, 1987, München: Artemis-Verlag
- Schama, Simon, „Rembrandts Augen“, 2000, Berlin: Siedler Verlag.
- Schütze, Sebastian, „Caravaggio – Das vollständige Werk“, 2009, Köln: Taschen Verlag.
- Stellen aus der Bibel werden zitiert nach www.bibleserver.com
Weitere Daten und alle Bilder wurden aus der deutschen Wikipedia übernommen.
Titelbild dieses Posts: Rubens. Tarquinius und Lucretia. 1609 – 10. Öl auf Leinwand. Moskau, Privatbesitz.
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