Cos’è questa commedia? Was soll diese Komödie?
Wolfgang Amadeus Mozarts Oper ist eine einzige tolle Turbulenz. Missverständnisse, überraschende Wendungen und fehlgeschlagene Intrigen steigern die Verwirrung bei Akteuren und Zuschauern, bis dann im 4. Akt alles durcheinanderpurzelt: in stockdunkler Nacht verwechseln, verstecken und ertappen sich verkleidete und unverkleidete Gestalten bei ihren Liebesabenteuern, während sie im grünen Labyrinth des Schlossparks herumstolpern.
Wer kann da noch folgen? Wer kann dieses Chaos im 4. Akt ordnen?
In dieser sechsteiligen Reihe wollen wir es versuchen.
Dabei ist der Kern der Geschichte doch eigentlich ganz einfach:
In einem Schloss bei Sevilla herrschen Graf und Gräfin Almaviva mehr oder weniger erfolgreich über ihre Bediensteten.
Figaro, der Kammerdiener des Grafen, liebt Susanna, die Zofe der Gräfin, und möchte sie heiraten. Susanna liebt umkehrt den Figaro und möchte ihn heiraten.
Doch am Tag der Hochzeit eskalieren die Komplikationen.
Warum ist diese Oper so besonders?
Zu Mozarts Zeit gab es zwei Arten von Opern, die Opera seria und die Opera buffa. Der Unterschied war ähnlich wie heute zwischen U- und E-Musik. In der Opera seria stand ganz der Gesang im Vordergrund, die Darsteller kannst du dir als singende Schachfiguren vorstellen. In der Opera buffa ging es um genau umrissene Figuren, wie zum Beispiel den knurrigen Alten mit dem guten Herzen. Die lustige Wirkung entsprang einer Art Humormechanik, die diese Typen in unterschiedlichen Situationen aufeinandertreffen liess. Du kannst dir die Darsteller mehr oder weniger als singende Clowns vorstellen.
Mit Mozart wurde das alles anders. Er interessierte sich für die Menschen hinter den Figuren, für deren Gefühle von Liebe, Hass, Freude, Ärger, Melancholie. Diese Menschen machen psychologische Entwicklungen durch. Marcellina zum Beispiel beginnt im ersten Akt ganz buffa als komische (weil unbegattete) Alte. Im vierten Akt ist sie zur lebensklugen Frau geworden, die an Susanna glaubt, auch wenn einiges gegen diese zu sprechen scheint.
Mozart legte allergrössten Wert auf die schauspielerischen Fähigkeiten seiner Sängerinnen und Sänger. Er verlangte, dass die Rollen natürlich gespielt werden sollten. In dieser Forderung nach Natürlichkeit bestand die Kongenialität zwischen ihm und Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, dessen Komödie Le Mariage de Figaro die Vorlage zur Oper bildete.
Wenn uns die Hochzeit des Figaro heute noch interessiert, dann deshalb, weil wir uns musikalisch und schauspielerisch in diesen Menschen immer noch wiedererkennen.
Das Personal
Dass Mozarts Oper seit mehreren Jahrhunderten so überaus erfolgreich ist, hat sicher mit den Menschen zu tun, denen wir hier begegnen. Einerseits erscheinen sie uns so vertraut, andererseits sind sie uns ganz fremd. Die feudale Welt, in der sie lebten, ist schon lange versunken. Wenn heute ein Fahrer seinem Chef die Wagentür aufhält und die Chauffeurskappe abnimmt, dann ist das seine berufliche Rolle. Er weiss sehr wohl, dass er als Person, als Mensch nicht unter seinem Chef steht. Wenn der ihn unangemessen behandelt, kann er sich rechtlich dagegen wehren.
Das war in der Welt des Figaro anders. Seine Tätigkeit als Kammerdiener war kein Beruf, sondern eine persönliche Zugehörigkeit, aus der er sich nicht lösen konnte. Der Graf war im wahrsten Sinne sein Herr, der seiner Vermählung zustimmen musste und diese Zustimmung verweigern konnte. Er hatte formal immer noch das alte Jus primae noctis, das Recht auf die erste Nacht mit der frisch verheirateten Susanna.

Wie sollen wir sie uns nun vorstellen, diese Menschen: Den Figaro, die Susanna und die anderen? Wir wollen Bilder sehen! Eigentlich ist das nicht schwer, denn die Oper wird häufig aufgeführt und es gibt viele traditionelle Inszenierungen mit Rokoko-Dekoration und entsprechender Garderobe. Eine Bildersuche zeigt uns schnell hunderte Susannas. Aber das ist doch etwas anderes. So gut die Ausstattung auch sein mag, wir erkennen auf den Bildern unsere Zeitgenossen, nicht die Menschen des späten 18. Jahrhunderts. Susanna hat sich vermutlich anders ernährt, anders bewegt und anders gesehen als etwa Kiri te Kanawa, eine berühmte Sängerin des 20. Jahrhunderts.
Nein, wenn wir uns ein Bild machen wollen, dann werden wir eher fündig in der Kunst der Zeit, in ihren Gemälden und Kupferstichen. Die Menschen, denen wir dort begegnen, sind uns auf die gleiche Weise vertraut und fremd wie die Personen, die wir hier in der Geschichte von Figaros Hochzeit kennenlernen.
Graf Almaviva ist ein echter Herr. Er hat dieses grenzenlose, von keinem Zweifel angefressene Selbstbewusstsein, dass sein Wille geschehen muss. Immer! Leider hat er sich keine besonders anspruchsvollen Ziele gesetzt. Er will einfach immer das, was ihm gerade gefällt. Ob er anderen etwas wegnimmt, ist ihm egal. Schließlich ist er der Herr. Ob er seine Gattin damit betrübt? Egal, schliesslich ist er nicht nur der Herr, sondern auch der Mann. Sensibel wird er nur, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Dann zürnt er, tobt und droht. Aber in der aufgeblasenen Hülle sitzt eigentlich ein unsicherer Mensch. Er ist bei weitem nicht so clever wie seine Bediensteten, kriegt oft nicht mit, was läuft, und weiss nicht, wie er’s machen soll. Bei ernsthaftem Widerstand knickt er schnell ein. Der Graf, mit Verlaub, ist ein Gockel, der glaubt, er sei ganz unwiderstehlich, besonders bei Frauen. Eine, auf die er ein Auge geworfen hat ist Susanna, die Verlobte seines Kammerdieners. Kann er sie haben, obwohl er auf das Recht der ersten Nacht offiziell verzichtet hat?
Rosina, Gräfin Almaviva, ist eine feine Dame von Abkunft, Erziehung und Charakter. Anders als für ihren Mann zählt für sie die Person, nicht der Stand oder der Titel. Sie ist deutlich intelligenter als er aber viel gutmütiger. Deshalb lässt sie ihn in der Regel machen und setzt sich nicht durch. Susanna, ihre Zofe, ist für sie eine Vertraute auf Augenhöhe. Rosina würde niemals irgendwen von oben herab behandeln. Den hübschen Pagen Cherubino, der sie stürmisch aber naiv umwirbt, hat sie gern. Vom Grafen fühlt sie sich vernachlässigt und wird sich vielleicht auf ein Liebesabenteuer einlassen. Oder ist sie dafür doch zu anständig?
Figaro, der Kammerdiener des Grafen, weiss genau, dass er cleverer ist als sein Herr. Oft schon hat er ihn ausgetrickst, ohne dass dessen schwerfälliger Verstand etwas bemerkt hat. Figaro ist ein sozialer Aufsteiger, vom Findelkind zu fast so etwas wie dem Vertrauten eines hohen Herrn. Wie seine Braut Susanna ist er etwas eitel und möchte gerne mehr erreichen. Er sieht sehr wohl, dass seine Lebensverhältnisse nur aufgrund seines Standes bescheiden sind und nicht aufgrund seiner Tüchtigkeit. Aber er ist dem Grafen ähnlicher, als er glaubt, denn auch ihm sagt sein männliches Selbstverständnis, dass er einer Frau natürlich überlegen ist, wenn es um Pläne und Entscheidungen geht. Aber muss er sich nicht am Ende eingestehen, dass Frauen im Spinnen von Ränken unschlagbar sind?
Susanna, die Zofe der Gräfin, ist eine kluge und praktisch veranlagte junge Frau. Geschickt konnte sie bislang allen Avancen des Grafen ausweichen, ohne ihn zu verärgern. Sie kann gut reden und interessiert sich für Mode. So elegant wie ihre Herrschaft möchte sie auch gerne sein, denn sie glaubt nicht, dass die etwas Besseres sind. Dafür ist sie viel zu nah dran.
Du darfst dir Susanna übrigens nicht als Model vorstellen. Sie ist nicht superschlank, eher gut proportioniert. Ihr wacher Blick und der Anflug eines spöttischen Lächelns machen sie so attraktiv. Aber kann sie Ihren Willen durchsetzen gegen all die Männer?
Cherubino, der Page des Grafen, ist ein fröhlicher, etwas naiver junger Mann, sehr sensibel. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er für den Militärdienst ausersehen ist. Der würde doch sofort losheulen, wenn die Kanonen donnern, oder? Beim Dichten und Musizieren, da zeigen sich seine wahren Talente. Und weil er so sanft, verspielt und umgänglich ist, haben ihn alle Frauen ins Herz geschlossen. In Liebesdingen ist er der ärgste Konkurrent des Grafen, was der natürlich nicht wahrhaben möchte. Wie kann so ein Weichei erreichen, was seiner gräflich-männlichen Dominanz verwehrt bleibt?
Don Basilio, der intrigante Musiklehrer der Gräfin, war auch mal jung und idealistisch. Aber die Härten des Lebens haben ihm alle Flausen ausgetrieben. Er wird nie ein berühmter Musiker werden, sondern seine Tage unbekannt in der Provinz beschließen. Enttäuschungen haben ihn bitter und bösartig gemacht. Warum soll es irgendjemand gut gehen, wenn es ihm selbst schlecht geht? Warum soll irgendjemand Glück haben, wenn er selbst doch immer den Kürzeren zieht? Auf Bitten Susannas hat die Gräfin entschieden, dass Don Basilio nun auch ihr Gesangsunterricht gibt. Man stelle sich vor – einer Bediensteten! Aus Rache hat er sich zum Werkzeug des Grafen machen lassen und versucht Susanna davon zu überzeugen, dass ihr ein amouröses Verhältnis mit dem Herrn nur Vorteile bringen kann. Wie tief kann ein Intrigant sinken, oder hat er am Ende doch Erfolg?
Die ältliche Verwalterin Marcellina sorgt seit Jahren dafür, dass der Besitz des Grafen als Wirtschaftsbetrieb erfolgreich läuft. Sie ist geizig und hat eine Menge Geld gespart. Auch ihr bereitete das Leben manch herbe Enttäuschung. Ihr langjähriger Geliebter, der Arzt Dr. Bartolo, konnte sich in all den Jahren nie dazu durchringen, sie zum Altar zu führen. Sogar als sie schwanger war und ihm einen Sohn gebar, fand er immer neue Ausreden. Und dann wurde ihr kleines Kind auch noch aus der Wiege geraubt. Aber Marcellina hat Träume, sie will unbedingt heiraten. Einer wie Figaro wäre ihr recht. Der hat so etwas Leichtes und Abenteuerliches. Ganz anders als ihr alter Galan, Bartolo, der immer dicker und schlechter gelaunt wird. In einem Anflug von Verrücktheit hat sie dem Figaro Geld geliehen. Im Gegenzug versprach der ihr die Ehe für den Fall, dass er es nicht zurückzahlen kann. Nun kann er nicht zahlen. Sticht sie Susanna aus und zwingt ihn zur Hochzeit?
Bartolo, der Arzt des Grafen, hat eine langjährige und undurchsichtige Beziehung zu Marcellina. Warum hat er sie eigentlich in all den Jahren nie geheiratet, aber auch nie verlassen? Es ist schon schräg, wie er sich als ihr Beschützer und Ratgeber aufspielt. Bartolo bildet sich sehr viel darauf ein, dass er als Mediziner etwas Besseres ist. Aber er ist zu träge, isst zu viel und erreicht deshalb wenig. Die Schuld dafür sucht er natürlich nicht bei sich. Andere erkennen ihn einfach nicht an. Warum hört der Graf auf Figaro, der nicht mal studiert hat und letztlich auch nichts zu bieten hat als ein großes Mundwerk? Er, Bartolo, wüsste immer, was zu tun ist und hat es meistens schon vorher gewusst, wenn Dinge schief laufen. Aber ihn fragt ja keiner. Er hasst Figaro schon sehr lange. Aber hasst er ihn so sehr, dass er dessen Verheiratung mit Marcellina unterstützt und sich damit selber schadet?
Don Curzio ist Jurist und damit beauftragt die rechtliche Folge der Vereinbarung zwischen Marcellina und Figaro zu beurteilen. Ein unangenehmer Vertreter seines Standes, eingebildet, arrogant, konservativ. Wenn er sich aufregt, neigt er zum Stottern. Eigentlich mag er keine Frauen: Zu zickig, zu geschwätzig, zu unvernünftig, zu verschwenderisch. Aber er ist schlau genug zu verstehen, dass sein Auftraggeber, der Graf, wünscht, dass die Angelegenheit zugunsten Marcellinas ausgehen muss. Diese juristische Wendigkeit hat auch dazu geführt, dass er in Sevilla sehr gut Karriere gemacht hat, während der Arzt Bartolo nur so vor sich hindümpelt. Kann er Figaro zur Ehe mit Marcellina zwingen?
Antonio, der Gärtner des Grafen, ist Vater von Barbarina und Onkel von Susanna. Ein einfacher, grober Mann. Weil er das Gefühl hat, meist ungerecht behandelt zu werden, greift er viel zu oft zur Flasche. Des unüberbrückbaren Abstands zwischen Bedienstetem und Herrn ist er sich viel deutlicher bewusst als Figaro. Den hasst er, weil der ihm überlegen ist und was Besseres sein will. Auch den Cherubino hasst er, weil der bei seiner Tochter schläft. Der Graf schläft ebenfalls bei seiner Barbarina, aber den darf er ja nicht hassen. Verhindert seine Wut ein glückliches Ende?
Barbarina, die Tochter Antonios, sieht gut aus, ist frech und lässt sich nichts gefallen – ausser einer gefällt ihr. Sie liebt Cherubino, hat aber gleichzeitig ein Verhältnis mit ihrem Herrn, dem Grafen. Wer schlüpft am Ende unter ihre Decke?
Also los! Ouvertüre. Möge das Spiel beginnen.
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Videos
Videoausschnitte der einzelnen Musiknummern (Arien, Duette usw.) findest du in den jeweiligen Posts und in dieser Playlist:
Es handelt sich dabei um die Salzburger Aufführung von 1963.
Die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Lorin Maazel, mit:
Dietrich Fischer-Dieskau (Graf Almaviva),
Hilde Güden (Gräfin Rosina),
Graziella Sciutti (Susanna),
Geraint Evans (Figaro),
John van Kesteren (Basilio),
Peter Lagger (Bartolo),
Patricia Johnson (Marcellina),
Evelyn Lear (Cherubino),
Siegfried Rudolf Frese (Antonio),
Barbara Vogel (Barbarina),
Martin Vantin (Don Curzio)
und dem Chor der Wiener Staatsoper.
Verzeichnis der Bilder
Graf Almaviva: Jean-Baptiste Greuze, Portrait Comte d’Angiviller, 1763
Rosina, Gräfin Almaviva: Jean-Baptiste Greuze, Prinzessin Varvara Nikolaevna Gagarina, 1780 – 82
Figaro: Friedrich John, Portrait Francesco Benucci, ca. 1800. Francesco Benucci gab den Figaro in der Uraufführung der Oper 1786 in Wien.
Susanna: Pietro Bettelini, Portrait Nancy Storace, 1788. Nancy Storace gab die Susanna in der Uraufführung der Oper 1786 in Wien.
Cherubino: Unbekannter Künstler, Musketier, ca. 1750
Don Basilio: Paul-Constant Soyer, Auguste Caron de Beaumarchais, 1886 (Kopie eines Werks von Jean-Baptiste Greuze). Beaumarchais erfand die Figur des Figaro und schrieb drei überaus erfolgreiche Theaterstücke in denen dieser die Hauptrolle spielt. Sein zweites Stück „Die Hochzeit des Figaro“ war Inspiration und Grundlage für Mozarts Oper.
Marcellina: Jean-Baptiste Greuze, Portrait Madame Jean-Baptiste Nicolet, späte 1780er Jahre
Bartolo: Ingres, Portrait Louis-Francois Bertin, 1832
Don Curzio: Jean-Étienne Liotard, Portrait Jean-Louis Buisson-Boissier, 1762 – 1768
Antonio: Lambert Lombard, Selbstportrait, erste Hälfte des 16. Jahrhunderts
Barbarina: Jean-Baptiste Greuze, Kopf einer Frau, ca. 1780