Gilbert Ryle (* 19. August 1900 in Brighton; † 6. Oktober 1976 in Whitby) war einer der einflussreichsten britischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er lehrte an der Universität Oxford. Ryle gilt zusammen mit John Langshaw Austin und Ludwig Wittgenstein als Hauptvertreter der Ordinary Language Philosophy oder Philosophie der normalen Sprache.
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Die meisten Philosophen gehen davon aus, dass Wahrnehmung ein Vorgang ist. Das bestritt Gilbert Ryle.
[Ich möchte] zu zeigen versuchen, dass mit dem ganzen Programm, nach dem es sich beim Sehen eines Baums um das Endstadium entweder eines physiologischen oder eines psychologischen Prozesses handeln muss, etwas ganz und gar verkehrt ist.
(S. 304)
Er argumentierte sprachanalytisch: „Sehen“kann nicht auf einen Vorgang verweisen, denn in dem Moment, in dem du siehst, hast du schon gesehen. Ohne Dauer aber gibt es keinen Vorgang.
[Ich kann] zwar damit beschäftigt sein, nach etwas Ausschau zu halten oder es zu betrachten, aber ich kann nicht damit beschäftigt sein, es zu sehen, weil in jedem beliebigen Augeblick gilt, dass ich es entweder noch nicht gesehen habe oder schon gesehen habe.
(S. 306)
Es gibt viele Verben, zu deren Aufgabe es gehört, einen Endpunkt, das Erreichthaben von etwas zu markieren [„z.B. „finden“] … Andere Verben markieren einen Beginn … Anfang und Ende können nun aber nicht selber wieder einen Anfang oder ein Ende, geschweige denn eine Mitte haben.
(S. 305)
Weil Wahrnehmung gar kein Vorgang ist, kann es keinen Übergang geben von der Materie zum Geist.
Die Wahrnehmung gehört zu einer anderen Kategorie als Körper und Dinge.
Für Ryle war Wahrnehmung eine Disposition – eine Einstellung gegenüber der Welt.
Aus bekannten und gutfundierten optischen, akustischen und physiologischen Fakten scheint zu folgen, dass alles, was wir hören, sehen und riechen, nichts mit irgendwelchen Dingen oder Ereignissen ausserhalb von uns zu tun hat – wie wir normalerweise glauben – sondern ausschliesslich aus Dingen und Ereignissen unseres Innenlebens besteht.
(S. 310)
Überlegung
- Aber Ryles sprachliche Analyse ist keineswegs zwingend.
- Jedenfalls bezeichnet „Ich sehe es immer noch“ einen Vorgang, ist aber weder falsch noch sinnlos.
Literatur
Ryle, Gilbert, 1970. „Dilemmas“ (1953), in Begriffskonflikte, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 125, 126, 127f., 129f., 132-138.Hirst, Rodney J., 1959. The Problems of Perception, London: Allen & Unwin, besonders S. 55-58 und S. 126-135.
Lyons, William, 1980. Gilbert Ryle: An Introduction to his Philosophy, Brighton: Harvester Press, besonders S. 111-124.
Malinovich, S., 1964. „Perception: An Experience or an Achievement?“, Philosophy and Phenomenological Research 25: 161-168.
Quinton, Anthony, 1970. „Ryle on Perception“, in Ryle: A Collection of Critical Essays, O. P. Wood und G. Pitcher (Hg.), New York: Anchor Books, 105-135.
Rundle, Bede, 1972. Perception, Sensation and Verification, Oxford: Clarendon Press, besonders S. 70-112.
Scholz, Oliver, 1995. „Bilder im Geiste? Das Standardmodell, sein Scheitern und ein Gegenvorschlag“, in Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktoraler Repräsentationen, K. Sachs-Hombach (Hg.), Amsterdam: Rodopi, S. 39-61.
Sibley, Frank N., 1955. „Seeking, Scrutinizing and Seeing“, Mind 64: 455-478.
Textstellen zitiert nach: Wiesing, Lambert (Hg.), 2015. Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Biographische Information aus der deutschen Wikipedia.
Literatur aus Wiesing, 2015.