“Weil ich einen Gegenstand niemals aktiv angehe, spüre ich die Magie seines Daseins“
Die Geschichte von Domenico Gnoli (1933 – 1970) ist auch die Geschichte von Yannick Vu (* 1942) und Ben Jakober (*1930). Wie in jedem guten Drama sind hier drei Leben schicksalhaft miteinander verwoben.
Ein Verlangen nach Malerei
Domenico stammte aus einer Familie von italienischen Intellektuellen. Sein Grossvater (1838 – 1915), nach dem er benannt war, arbeitete als Literaturkritiker und schrieb selbst Gedichte. Von 1881 bis 1909 wirkte er als Direktor der Nationalbibliothek in Rom und baute dort das Kunsthistorische Archiv auf.

Sein Vater Umberto (1878 – 1947) leitete ab 1918 die Pinacothek von Perugia. Ab 1935 war er als italienischer Repräsentant für das New York Metropolitan Museum beschäftigt und darüber hinaus beteiligt am Aufbau der berühmten Kunstsammlung des amerikanischen Industriellen Henry Clay Frick, der Frick-Collection, für die er Werke der italienischen Renaissance erwarb.
„Seit meiner Geburt wusste ich, dass ich Maler werden würde, weil mein Vater Malerei als die einzig akzeptable Tätigkeit darstellte“
Anfang der 40er Jahre trennten sich Domenicos Eltern und der Vater übernahm seine Erziehung und die seiner Schwester. Für Domenico schrieb er eine ganze Reihe von kunstgeschichtlichen Lektionen, versehen mit vielen Zeichnungen, die den kaum zehnjährigen Jungen häufig überforderten. Aber Umberto war unnachgiebig und forderte eine beständige Auseinandersetzung mit den Errungenschaften der Kultur Italiens.


„Ich habe niemals meinen Sinn für den Geschmack und die handwerkliche Kunst der Renaissance verloren“
Schon von Kindheit an bemühte Domenico sich, den hohen Erwartungen zu entsprechen, die sein Vater und auch er selbst stellten.
Er war ein melancholischer Junge. Später erinnerte er sich an Ausbrüche intensiven Glücks, denen dann immer eine tiefe Melancholie folgte, die auffällig war und zu Bemerkungen darüber führte, wie unzugänglich er doch sei.

„Seine nachlässige Haltung sprach von einer melancholischen Natur, sein trauriges Gesicht von unsteten Launen, von einem schweren Herzen und einer einsamen Seele“
In seinem 1961 veröffentlichten Buch Orestes or the Art of Smiling beschrieb er sich selbst als traurigen Prinz. Dieser Prinz hatte niemals gelernt, zu lächeln. Er herrschte über ein Fürstentum, in dem jedes laute Geräusch verboten war. Keine Musik erklang, kein lautes Wort wurde gesprochen und sogar die Nachtigallen, Amseln und all die anderen Singvögel flogen einen weiten Bogen um die Mauern seines traurigen Reiches.

Für Domenico hatte die Malerei eine wunderbare Kraft:
Einst belagerte der Diadoche Demetrius die Insel Rhodos. Seine Truppen waren kurz davor, die Hauptstadt in Brand zu setzen. Aber hinter den Mauern befand sich ein Bild des Malers Protogenes, das Demetrius bewunderte. Also gab er die Belagerung auf und zog mit seiner Armee ab.


Schon mit Anfang zwanzig fand Domenico Anerkennung als Designer. 1955 gestaltete er das Bühnenbild und die Kostüme von Shakespeares As You Like It für eine Aufführung am Old Vic Theatre in London.

Aber er blieb nicht lange am Theater, weil ihm das unruhige Leben nicht gefiel und er sich als Künstler weiter entwickeln wollte.


„In all seinen Handlungen zeigte Domenico ein ritterliches Verhalten und man kann nur sagen, dass er ganz tief im Herzen ein Ritter war“
Er zögerte nicht und ergriff die Gelegenheit, diese unstete Göttin, der ihr Haar ins Gesicht hängt um zu verbergen, ob sie dir günstig gesonnen ist oder nicht. Ihr Hinterkopf ist rasiert, damit du sie nicht festhalten kannst, wenn sie entflieht, und die sich auf einer rollenden Kugel bewegt, damit sie jederzeit ihre Richtung ändern kann. Nie tritt sie allein auf. Ihre Begleiterin ist stets die Reue, die bei dir bleibt, wenn die Gelegenheit schon längst entflohen ist.
Der tapfere Ritter
Domenico liebte Pferde und Ritter. Als Kind träumte er davon, als tapferer Ritter die Welt zu erobern. Dieses Gefühl verliess ihn niemals.


Ab 1956 begann ein unruhiges Leben zwischen Paris, London und New York. Domenico hatte verschiedene Ausstellungen seiner Bilder, aber der grosse Erfolg stellte sich nicht ein. Sein Geld verdiente er mit Illustrationen für Magazine wie Horizon, Fortune und Sports Illustrated.
Im Jahr 1957 heiratete er das Model Luisa Gilardenghi. Aber die Ehe ging nicht gut und 1962 trennte sich das Paar. Domenico fiel in eine tiefe Depression. Er hatte das Gefühl, sich persönlich und künstlerisch in einer Sackgasse zu befinden. In diesen dunklen Tagen war er unfähig, sich von seiner Trauer zu lösen. Schließlich kam sein Freund Ben nach New York, tröstete ihn und überzeugte ihn, wieder nach Europa zurückzukehren.


Domenico entdeckte Deià am 12. März 1963. Er erreichte Mallorca mit der Fähre. Wie schon Erzherzog Ludwig Salvator vor ihm war er bezaubert von dem Blick auf Palma mit der Kathedrale, als das Schiff früh morgens in den Hafen einlief. Er quälte sich mit dem Auto die gewundene Strasse hoch nach Valldemossa und weiter nach Deía. Und als er dann um die letzte Kurve bog und das Tal mit Dorf oben auf dem Kegel einer Anhöhe sah, da ergriff ihn der uralte Zauber des Ortes und liess ihn nicht wieder los.
„Ich teile mir ein Haus mit einer jungen Malerin. Alles ist perfekt! Dies ist sicher einer der schönsten Plätze auf der Welt.“
Die Reise war mehr oder weniger ein Zufall, denn eigentlich war er zur Hochzeit eines seiner besten Freunde gekommen, des Malers Mati Klarwein, der zu der Zeit in Deià lebte. Domenico hatte ein Ferienhaus gemietet und er war nicht allein gekommen.

„Ich habe immer gemalt.“
„Immer?“
„Immer. Aber als ich mit Domenico zusammen war, hörte ich auf, weil seine Kunst so reif war und meine gerade erst begonnen hatte.“
Seine Freundin, Yannick Vu, war Französin mit einem vietnamesischen Vater und einer französischen Mutter. Ihr Vater war selbst Maler, ihre Mutter Pianistin. Einen grossen Teil ihrer Kindheit hatte sie in Südfrankreich verbracht, immer in Gesellschaft von Künstlern und Kreativen, die mit ihren Eltern befreundet waren.
Yannick und Domenico hatten sich verliebt – ineinander und in diesen Ort im Tramuntanagebirge.


Das Paar mietete ein Haus bei Lluchalcari und Domenico begann noch ernsthafter zu malen. Aber es war schwierig, in renommierten Galerien konnte er zunächst nicht Fuss fassen. Seine wichtigste Einnahmequelle bestand weiterhin in den Honoraren, die er von den Zeitschriften für seine Illustrationen erhielt.
„Ich hab’s geschafft. Wir hatten schon jede Hoffnung aufgegeben, als ein guter Freund vorschlug, dass er einige meiner Bilder einem der besten Galleristen von Paris zeigen könnte“
Eines Tages packten die beiden seine aktuellen Werke in ein altes Auto und fuhren nach Paris, wo sie eine schöne aber teure Wohnung mieten. Domenico begann, die Kunstgallerien abzuklappern und sich und seine Bilder vorzustellen. Es war frustrierend und das wenige Geld zerrann ihnen zwischen den Fingern. Doch dann zeigte sich die Gelegenheit günstig: Sein guter Freund Ben Jakober, den er 1955 in London kennengelernt hatte, stellte den entscheidenden Kontakt her.

Ben stammte aus einer jüdischen Familie, die ursprünglich in Ungarn ansässig gewesen war und dann in Wien gelebt hatte. Dort war er auch zur Schule gegangen, bis seine Eltern vor den Nazis nach England flohen. Zuerst hatte er im Handelsgeschäft der Famile gearbeitet, dann für die Rothschild-Bank in Paris. Dort verdiente er viel Geld, war aber doch unzufrieden. Ein Gefühl schlich sich ein und wurde immer stärker – er musste sein Leben ändern.
Wie so oft, wenn Magie im Spiel ist, hätte alles auch ganz anders kommen können, ja, das Andere wäre eigentlich das viel Wahrscheinlichere gewesen. Ben hätte als reicher Mann in seinem schönen Haus in Paris leben können. Er hätte geheiratet und Kinder bekommen, die auf Eliteschulen gegangen wären. Sicher, man hätte sich weiterhin besucht und auf Mallorca eine schöne Zeit verbracht. Aber die Leben von Domenico und Ben wären eben doch langsam aber sicher auseinander gelaufen.
Doch so kam es nicht, das Schicksal hatte andere Pläne.
Er hatte Domenico kennengelernt und eine enge Freundschaft war entstanden. Er war es gewesen, der Domenico in New York aus dessen Depression gerissen hatte, und er hatte in Paris geholfen, dass Domenico endlich, nach so vielen Ängsten und Anstrengungen, den ersten ersehnten Erfolg als Maler hatte. Die Ausstellung in der Gallerie von André Schoeller war Domenicos erster grosser Durchbruch.


Zurück auf Mallorca machte Domenico an einem schönen Sommertag im Jahr 1967 Rast an dem Aussichtspunkt Ses Pites zweischen Deià und Valldemossa. Von hier erspähte er unten an der Küste das weisse Gebäude von s’Estaca.

Hundert Jahre zuvor war ein Prinz nach Mallorca gekommen, der aus seinem Herzogtum in Toscana vertrieben worden war. Er baute dieses Haus als weisse Perle seines neuen Fürstentums über dem Meer. Ein Krieg zwang ihn, s’Estaca zu verlassen. Er zog ins kalte und graue Böhmen. Wo er starb.
Und s’Estaca fiel in Vergessenheit.
Nachdem er das weisse Haus entdeckt hatte begann Domenico nachzuforschen, wem es gehörte. Er lernte die Erbin des Erherzogs kennen und überredete sie, ihm s’Estaca zu vermieten.
Ein Jahr später, am 12. April 1968 konnte er endlich einziehen, mit seinen Bildern, seiner Freundin und vielen guten Vorsätzen.

Ein weiterer grosser Erfolg war die Einladung zur Teilnahme an der Documenta 4 im gleichen Jahr:

„In der Pop Art wird nicht die dreidimensionale Welt als solche sondern deren Reproduktion zum Gegenstand der bildlichen Darstellung“
Max Imdahl im Documenta-Katalog
Zentrales Thema dieser Documenta waren Pop Art und New Realism. Andy Warhol zeigte seine Marilyns und Raymond Hains seine Allumettes. Natürlich stellte sich die Frage, wie Domenicos Kunst einzuordnen sei. Aber sein Werk entzog sich diesen neuen Stilformen.
Pierre Restany, der Vordenker des New Realism, hatte bereits 1960 festgestellt:
„Der neue Realismus ist nicht einfach eine weitere Formel. Herkömmliche Malerei ist Geschichte“.
Und Andy Warhol, der berühmteste Vertreter der Pop Art, bemerkte 1967 trocken:
„Wenn Sie alles über Andy Warhol wissen wollen, dann betrachten Sie einfach die Oberfläche – dahinter ist nichts“.



„Die neue, grosse Realistik sondert die äussere Hülle des Dings vom Praktisch-Zweckmässigen ab und offenbart seinen inneren Klang.“
nach Wassily Kandinsky, 1912
Domenicos Kunst war auffällig anders.
Er hatte auf Mallorca endlich seine ganz eigene künstlerische Sprache gefunden, mit der er sich deutlich von den Trends der Zeit absetzte.
Der innere Klang seiner Bilder war ein Echo aus der Renaissance, übersetzt in das 20. Jahrhundert.





„Genau an dem Tag, als wir aufbrachen, traf ein Brief von Sidney Janis ein, in dem er schrieb, dass er ‚absolut fasziniert’ wäre von meiner Arbeit und diese so schnell wie möglich ausstellen möchte“
Sidney Janis (1896 – 1989) war ursprünglich ein erfolgreicher Textilunternehmer und Kunstsammler. 1948 eröffnete er seine Gallerie in New York die schnell zu einem wichtigen Ausstellungsort für moderne Kunst wurde. Er war einer der ersten Galleristen, die der Pop Art und den Neuen Realisten eine Plattform gab. Als Janis 1968 die Documenta besuchte, sah er zum ersten Mal Bilder von Domenico Gnoli.
Er war beeindruckt.


Während des ganzen Jahres 1969 arbeitete Domenico unablässig für die Ausstellung in New York. In dieser Schaffensphase besigte er endgültig die Melancholie, seinen alten Drachen. Er hatte durchgehalten, er hatte unendlich viel gearbeitet und er hatte nie die Hoffnung aufgegeben. In allen Schwierigkeiten hatte er immer an sich geglaubt. Und nun stand er tatsächlich vor dem internationalen Durchbruch als Maler.


Im Dezember 1969 wurde die Einzelausstellung in Sidney Janis’ Gallerie eröffnet. Sie wurde zu einem grossen Erfolg.


Aber im Frühjahr 1970 wurde er krank. Ein neuer Drache kam und tötete den tapferen Ritter. Doch sein Werk lebte weiter.

Die Einöde von Mortitx
Im Jahr 1968 hatte Ben auf Mallorca ein Stück Land mit einem alten Haus gekauft, ein gutes Stück nördlich von Deià, auf der Hochebene von Mortitx.
Es gibt kaum einen Ort auf der Insel, der rauher, windiger, kälter und feuchter ist. Aber hier an diesem steinigen, unwirtlichen Ort wollte er leben. Als Domenico starb wurde Mortitx vollends zur Einöde. Ben frohr in seinem alten Haus und Yannick war verschwunden.

Und als wirklich alles ganz und gar verloren schien, klopfte jemand an Ben’s Tür. Yannick war zurück.


Ben erichtete einen Damm, der das Wasser eines kleinen Torrents staute. Dieses Wasser verwandelte die Einöde schon in kurzer Zeit in einen Garten mit einer Fülle von Früchten. Pfirsiche, Birnen, Auberginen und Zucchini reiften auf den Feldern.
Schafe grasten, Kinder spielten. Es kam Besuch, es wurde gekocht und gefeiert. Und der Vorhang öffnete sich für etwas ganz Neues.
Ein Königreich über dem Meer

Im Jahr 1980 bauten Yannick und Ben Sa Bassa Blanca, eine neue s’Estaca über dem Meer bei Alcudia. Der ägyptische Architekt Hassan Fathy wandelte eine alte Militärstation um in einen weissen Palast.


Yannick und Ben begannen mit einer Sammlung von Kinderportraits und machten aus dem Haus und seinen Gärten nach und nach ein Museum.


„Als ich diese Zeichnungen von Leonardo sah, traf es mich wie ein Schlag. Es schien mir absolut notwendig sie neu zu erschaffen, mit zeitgenössischen Materialien.“
Dies war auch das Jahr, in dem Ben sich erstmals mit plastischer Kunst einen eigenen Namen als Künstler machte.
Yannick arbeitete mit ihm zusammen. Als Künstlerpaar transformierten sie das künstlerische Erbe der Renaissance ins 21. Jahrhundert.



„Wenn wir ein Projekt anfangen, entsteht eine Energie, die sich anfühlt wie die Gegenwart einer dritten Person“
1993 wurde das Künstlerpaar zur Teilnahme an der 45. Biennale von Venedig eingeladen. Als Beitrag gestalteten sie eine moderne Version von Leonardo da Vincis Il Cavallo. Die Statue eines Ritters auf seinem Pferd hatte Leonardo als 14 Meter hohe Bronzeplastik geplant. Doch ein Krieg kam dazwischen und aus den 70 Tonnen Bronze, die für das Werk bestimmt waren, wurden statt dessen Kanonen gegossen. Auch nach Ende des Krieges zog sich das Projekt endlos weiter hin, weil technische Schwierigkeiten unbeherrschbar waren. Leonardo stellte dieses Reiterstandbild zu Ehren von Francesco Sforzas (1401–1466) am Ende niemals fertig.
Yannick und Ben liessen eine 14 Meter hohe Plastik des Pferdekopfes in der Lagune von Venedig zu Wasser. Gestaltet als metallene Gitterkonstruktion, angelehnt an eine Zeichnung einer Holzkonstruktion, die Leonardo zu zum Schutz seiner Statue beim Transport entworfen hatte.


Mit dieser Auferstehung des Pferdes (und seines Ritters) schlossen sie nun einen Kreis, dessen Anfang Domenico Gnoli vor vielen Jahren gezogen hatte.


Wir haben nur eine Zukunft, wenn wir unsere Vergangenheit mitnehmen.
So ein schöner Text! Ich habe das Gefühl Domenico Gnoli etwas kennenlernen zu dürfen. Die Geschichte insgesamt gibt einem Mut und Hoffnung immer weiterzumachen und das Leben zu schätzen.
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