Edmund Gustav Albrecht Husserl (* 8. April 1859 in Proßnitz in Mähren, Kaisertum Österreich; † 27. April 1938 in Freiburg im Breisgau, Deutsches Reich) war ein österreichisch-deutscher Philosoph und Mathematiker und Begründer der philosophischen Strömung der Phänomenologie.
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Edmund Husserl lehnte die These von der unabhängigen Existenz der Dinge ab.
Er zeigte, dass wir, entgegen unserer Überzeugung, die Dinge ganz zu sehen, immer nur Teilansichten wahrnehmen können.
Die perspektivische Abschattung, in der jeder Raumgegenstand unweigerlich erscheint, [bringt] ihn immer nur einseitig zur Erscheinung.
(S. 203)
Eine äußere Wahrnehmung ist undenkbar, die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt erschöpfte, ein Wahrnehmungsgegenstand ist undenkbar, der in einer abgeschlossenen Wahrnehmung im strengsten Sinne allseitig, nach der Allheit seiner sinnlich anschaulichen Merkmale gegeben sein könnte.
(S. 203)
Die unmittelbare Wahrnehmung kann also nicht Ursache unserer Vorstellung von den Dingen sein. Letztere konstituieren sich laut Husserl in der Erkenntnis.
Wo immer wir von Gegenständen sprechen, sie mögen welcher Kategorie immer sein, da stammt der Sinn dieser Gegenstandsrede ursprünglich her von Wahrnehmungen, als den ursprünglich Sinn und damit Gegenständlichkeit konstituierenden Erlebnissen. Konstitution eines Gegenstandes als Sinn ist aber eine Bewusstseinsleistung, die für jede Grundart von Gegenständen eine prinzipiell eigenartige ist.
(S. 218)
Der sich konstituierende Gegenstand ist aber nur eine Regel für weitere mögliche Wahrnehmungen. Husserls Beispiel ist die Perspektive.
Sehen wir den Tisch, so sehen wir ihn von irgendeiner Seite, und diese ist dabei das eigentlich Gesehene; er hat noch andere Seiten … Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewusstsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, dass das Originalbewusstsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und original Bewussthabens von Seiten und eines Mitbewussthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da sind. Ich sage mitbewusst, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das Bewusstsein irgendwie da, ‚mitgemeint’ als mitgegenwärtig.
(S. 203 -204)
Alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, dass es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont, dass es umgeben ist von einem Hof erscheinungsmäßiger Leere. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit. […] Seinen Sinn hat dieser Bewusstseinshof, trotz seiner Leere, in Form einer Vorzeichnung, die dem Übergang in neue aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt.
(205)
Aufgrund der Regeln bleibt der Gegenstand als Möglichkeit bestehen, auch wenn er nicht wahrgenommen wird.
Der Leib fungiert beständig mit als Wahrnehmungsorgan und ist dabei in sich selbst wieder ein ganzes System aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsorgane. Der Leib ist in sich charakterisiert als Wahrnehmungsleib. […] In besonderer Weise ist das System der Leibesbewegungen bewusstseinsmäßig charakterisiert als ein subjektiv-freies System. […] Wenn ich eine Linie im freien System des ‚Ich bewege mich’ realisiere, so sind im Voraus die kommenden Erscheinungen vorgezeichnet. Die Erscheinungen bilden abhängige Systeme. Nur als Abhängige der Kinästhesie können sie kontinuierlich ineinander übergehen und Einheit eines Sinnes konstruieren. […] Nur durch dieses Zusammenspiel unabhängiger und abhängiger Variablen konstituiert sich das Erscheinende als transzendenter Wahrnehmungsgegenstand […], der mehr ist, als wir gerade wahrnehmen, […] der ganz und gar meiner Wahrnehmung entschwunden und doch fortdauernd sein kann.
(S. 213)
Worauf das thematisch sich vollziehende Wahrnehmen hinauswill, ist […] im Durchlaufen eine Einheit originärer Kenntnisnahme zu schaffen, durch die der Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalt zur ursprünglichen Erwerbung und durch sie zum bleibenden Kenntnisbesitz würde.
(S. 208)
Überlegung
- Wenn die Konstitution von Dingen und Tatsachen keine Leistung der Wahrnehmung sondern der Erkenntnis ist, wird die Vorstellung einer ausser uns existierenden Wirklichkeit tendenziell sinnlos.
Literatur
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Literatur aus Wiesing, 2015, sowie aus der Stanford Encyclopedia of Philosophy.