Hieronymus Bosch war ein Künstler in einer Welt voller Magie. Seine Menschen sind hin- und hergerissen zwischen Lust und Schuld, zwischen Paradies und Hölle. Böse und gute Dämonen, giftige und süße Früchte, verzauberte Objekte. Bauten in fremdartiger Architektur, die auf unbekannte Nutzungen verweisen und in verwunschenen Städten im Dunst ferner Horizonte aufragen. Mit überwältigender Kraft bringt Bosch eine zutiefst mittelalterliche Weltsicht zur Geltung, die so authentisch ist, dass sie uns heute immer noch berührt. So malte er in einer Zeit, in der die Renaissance bereits ihre großen Triumpfe feierte.
Wie unterscheiden sich Mittelalter und Renaissance?
Mittelalter und Renaissance sind kunstgeschichtliche Fachbegriffe, die erst im 19. Jahrhundert geprägt wurden. Die Maler des Mittelalters haben sich ja nicht als mittelalterliche Maler verstanden.
Eine einfache Methode der Unterscheidung ist die Untersuchung, ob der Maler die Perspektive von Räumen, Gebäuden und Landschaften bewusst konstruiert oder virtuos erspürt hat. Die Renaissance geht nach allgemeiner Auffassung einher mit einer Verwissenschaftlichung der Malerei. Und die perspektivische Konstruktion ist nichts anderes als die Anwendung der Geometrie auf die Malerei.
Albrecht Dürer, ein Zeitgenosse von Hieronymus Bosch, hat 1495 das Bild „Der heilige Hieronymus in der Wildnis“ gemalt. Damals einbeliebtes Motiv.

1495 war auch das Jahr, in dem Dürer seine erste Italienreise unternahm. Dort war die Konstruktion der perspektivischen Darstellung seit den 20er Jahren des Jahrhunderts bekannt. Der Mathematiker und Baumeister Leone Battista Alberti hatte 1435 bis 1436 sein Werk „De pictura“ veröffentlicht, mit dem die Malerei zum ersten Mal auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wurde. Dürer, der selbst mathematisch begabt war, verfasste in der Folge ebenfalls ein Werk zur perspektivischen Darstellung.
Sein Hieronymus ist eine Person. Er ist muskulös und kräftig. Die Proportionen sind realistisch, die Haltung anatomisch nahezu korrekt. Er steht an einem bestimmten Punkt in dieser Welt, ist dort hin gegangen, nicht hineingestellt worden. Man erkennt eine komplexe Perspektive, die durch Felsen, Wald und Wolken definiert ist.
Hier hat die Renaissance bereits all die Dämonen und Symbole des Mittelalters vertrieben und das lange verschlossene Fenster zur Welt wieder geöffnet.
„Der heilige Hieronymus in der Wildnis“ von Bosch
Auch Hieronymus Bosch hat um 1495 herum ein Bild des heiligen Hieronymus in der Wildnis gemalt.

Den Unterschied siehst du sofort. Bei Bosch, etwa 25 Jahre älter als Dürer, findet sich der Heilige in einer Einsamkeit voll von seltsam symbolischen Dingen. Dinge, die ganz für sich selbst gelten, nur in schwacher Beziehung zu Benachbartem stehen. Technisch gesehen: Es gibt keine eindeutige Perspektive.

Die Steinplatten unter Hieronymus’ rechtem Fuß etwa passen konstruktiv weder zueinander noch zu der Mauer, die sie nach hinten begrenzt, noch zu der, die sich von vorne links hereinschiebt und hinter dem zylinderförmigen Objekt verschwindet, auf dem eine Figur zum Himmel betet. Bäume und andere Objekte hatten bei Bosch oft die Funktion, etwas zu überdecken, was er noch nicht richtig darstellen konnte.

Zwar unterscheiden verschiedene Bildebenen schon zwischen „vorne“ und „hinten“. Aber sie wirken flach, wie aufeinander gestapelt. Erwin Panofsky hat diese Art der Perspektive als „Aggregatraum“ bezeichnet.
In das Ensemble ist nun der Heilige gesetzt. Er scheint den Boden nicht zu berühren, seine Haltung ist anatomisch unmöglich und die Proportionen seiner Körperteile wirken verzerrt. Obwohl er sich dem Kreuz zuzuwenden und es anzubeten scheint, schaut er doch beziehungslos und unbeteiligt darüber hinweg. Diese Figur ist ein Symbol, keine Person. Genau das kennzeichnet die Malerei des Mittelalters.
Bosch stand also 1495 die perspektivische Darstellung offensichtlich nicht zur Verfügung.
Aber 25 Jahre vorher konnte er es doch!

Betrachte „Die Anbetung der Könige“. Der Maler beherrscht hier eine einfache Version der Zentralperspektive. Eigentlich ist in diesem Bild sogar die Architektur der Star. Die Fluchtlinien, die mit den diagonal verlaufenden Fugen des Mauerwerks zusammen fallen, wirken wie mit dem Lineal gezogen. Dies ist kein enger Stall, in dem Maria das Jesuskind den Königen präsentiert. Dies ist der Innenhof einer großen Burgruine, ein mächtiger Raum – und die darstellerische Fähigkeit des Malers soll Eindruck machen. Die Figuren selbst sind dagegen ganz mittelalterlich, symbolisch, beziehungsarm, nicht in einem ordnenden Geschehen miteinander verbunden. Sie schauen aneinander vorbei, nur die Platzierung im Bild regelt ihr Verhältnis. Sie könnten von Bosch sein.
Aber wie willst du erklären, dass der Maler, der hier die Konstruktion der Perspektive beherrschte, seine Fähigkeit später wieder vollkommen vergessen konnte?