

Meine Tante Hilla wurde 1927 geboren. Sie ist über 90 Jahre alt und dement. Ich besuche sie einmal pro Woche und, wenn es ihr gut geht, gehen wir beide ins Café zum Kaffeeklatsch. Sie hat vieles vergessen, aber manches vergisst sie nie und anderes ist auf einmal wieder da. Am Ton ihrer Stimme kann ich leicht erkennen, ob sie etwas nur sagt ohne wirklich zu wissen, was es bedeutet, oder ob sie genau das meint oder will, was sie sagt. Wenn wir uns treffen, bringe ich meist einige alte Familienfotos mit. Das große Problem mit solchen Fotos ist ja, dass die Leute einfach nie auf die Rückseite schreiben, wer abgebildet ist (ich muss zugeben, dass ich das auch nur selten mache), und nur eine Generation später sind einige Personen schon nicht mehr identifizierbar. Aber plötzlich ist dann bei ihr der Name zu einem Gesicht wieder da – ganz klar, ganz sicher.
Mit ihren 90 Jahren interessiert sie sich nicht mehr für Politik oder Kunst (obwohl sie viele Jahrzehnte lang musiziert hat). Das Thema, das sie wirklich inspiriert und rührt, ist die Vergangenheit und ganz besonders ihre Familie. Sie hatte ein bewegtes Leben: Fünf Geschwister, zeitweise großer Wohlstand, zeitweise bittere Armut. Von ihren fünf Geschwistern überlebten nur zwei, darunter meine Mutter. Die beiden Brüder fielen in den letzten Wochen des zweiten Weltkriegs irgendwo in Russland, die jüngere Schwester starb mit neun Jahren an einem ersten Weihnachtstag an durchbrochenem Blinddarm.

Ihr Vater verlor Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts sein gesamtes Vermögen. Die Familie musste aus ihrer wunderschönen Jugendstilvilla ausziehen in eine dunkle Mansardenwohnung. Ein paar Jahre später starb der Vater, da war sie erst 13.



Ihre Mutter, meine Oma, hielt die Familie zusammen und sorgte dafür, dass alle eine Ausbildung bekamen. Meine Oma habe ich immer als besonders positiven Menschen erlebt. Das ist erstaunlich, weil sie gleich mehrfach im Leben hart vom Schicksal getroffen wurde. Schon als junge Frau verlor sie ihren Vater durch Krebs und dann vernichtete die Hyperinflation nach dem ersten Weltkrieg das gesamte Familienvermögen. Eigentlich war sie zu der Zeit in einen Kapitän der Handelsmarine verliebt, heiratete dann aber doch meinen Opa, einen Architekten und Bauunternehmer.




Alles schien besser zu werden, bis dann 15 Jahre später das Geschäft meines Opas scheiterte.
Meine Tante wurde nach dem Krieg Lehrerin, heiratete nie und baute ein Haus, in das sie mit ihrer Mutter zog. Dieses Haus hat sie mit großer Liebe und einem starken Willen zur Gestaltung gebaut. Das spürst du heute noch. In den alten Bauzeichnungen wird erkennbar, wie sie sich gegen den Architekten durchsetzte, um hohe und helle Räume zu bekommen. Enge war ihr zuwider und sie verstieß deshalb sogar gegen eine Verordnung der Bauförderung für Beamte, die die maximale Wohnraumgröße betraf: Was im Plan zwei Zimmer sein mussten, machte sie zu einem.

Nach dem Unglück, das sie als junges Mädchen getroffen hatte, kam ihr Leben nun in ruhigere Bahnen. Sie war sehr kontaktfreudig und interessiert, hatte einen großen Freundeskreis, reiste viel, musizierte und begeisterte sich für Malerei und Theater. Zusammen mit meiner Oma führte sie eine umfangreiche Korrespondenz mit Freunden, Bekannten und Familie. Abends saßen die beiden oft am Esszimmertisch und entwarfen Briefe. Drei oder vier Entwürfe wurden von Hand geschrieben und wieder verworfen. Manche der Briefe sind in Reimform verfasst über mehrere Seiten.
Heute ist sie allein übrig geblieben, auch ihre beiden Schwestern sind gestorben. Es fällt ihr schwer, das zu begreifen, und ich muss sie immer wieder daran erinnern. Dann stellen wir uns vor, dass die ganze Familie auf einer Wolke sitzt und uns beim Kaffeeklatsch zuschaut. Wenn das Wetter gut und sie fit ist, fahren wir manchmal zu den Gräbern und vergewissern uns, ob alle brav da liegen.
Klar, das Leben wird lästig im Alter: Sie kann nicht mehr so gut gehen, ist schnell erschöpft und oft müde. Aber meist ist sie guter Dinge. Wenn nicht, zählen wir all das auf, was sie noch kann, was gut ist und ihr Spaß macht. Du kannst ohne Übertreibung sagen, dass ihr Leben gelungen ist, dass sie etwas daraus gemacht hat.
Sie hat regelmäßig Besuch und spielt einmal in der Woche Bridge, wenn es geht. Trotz ihrer Demenz beherrscht sie dieses Kartenspiel immer noch ganz gut und ihre langjährigen Mitspielerinnen beziehen sie weiterhin mit ein.
Jüngere Menschen denken manchmal, dass das Alter ganz furchtbar sein muss – abhängig, fremdbestimmt, schmerzhaft. Sie empfinden es als Belastung, Zeit mit einem alten Menschen zu verbringen, ekeln sich vor faltiger Haut und dem Geruch des Alters.
Aber ich glaube, eigentlich meint das keiner böse. Es ist nur so, dass du spürst, dass auch du selbst nur ein paar Schritte vom Altsein entfernt bist. Und diese Schritte sind so kurz. Das macht Angst und gibt dir ein unangenehmes Gefühl, das du auf die alten Menschen überträgst. Dabei siehst du dich in ihnen ja selbst.
Wenn du diesen Blick auf dich selbst aushältst, dann merkst du, dass das Alter nicht schlimm ist. Es ist einfach eine Zeit, die zu deinem Leben gehören wird. Eine Zeit, aus der du etwas Gutes machen musst, wie aus deinen anderen Lebenszeiten auch. Denn das Leben ist schnell vorbei und der einzige Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Zeit ist, dass die schlechte Zeit eben schlecht war. Etwas machen musst du in jedem Fall, warum es also nicht etwas Gutes daraus machen?