„Mallorca ist ein Paradies – wenn du es aushältst.“ (Gertrude Stein)
Das Dorf
Das Dorf Deià liegt in einem dramatisch schönen Tal des Tramuntanagebirges im Nordwesten Mallorcas. Mitten in diesem Tal, das sich zum Meer hin öffnet, erhebt sich kegelförmig der Puig, ein Hügel, auf dem sich verschachtelte Häuser um die Kirche mit dem Friedhof drängen, der ganz oben liegt, nah zum Himmel und mit Blick auf das Meer.
Noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebten die Menschen in Deià fast ausschließlich von der Landwirtschaft und der Fischerei. Das war schwere Arbeit, mit der kaum etwas zu verdienen war. Trotzdem fiel dem Maler und Schriftsteller Santiago Rusiñol auf, wie ordentlich und sauber die Einwohner hier gekleidet waren, als er zu dieser Zeit den Ort besuchte. Er erzählt dazu in seinem Buch „La Isla de la Calma“ die folgende Geschichte vom verhinderten Wohltäter:
Ein Bekannter erbte einst von einem Menschenfreund eine größere Summe mit der Auflage, das Geld an die Armen zu verteilen. Da er wusste, dass die Bauern und Fischer in der Tramuntana ein hartes Leben führten, ging er nach Deià und bat den dortigen Priester, ihm einige besonders Bedürftige zu nennen, damit er diesen das Geld geben könnte.
Der Priester schaute ihn verwundert an und sagte, in Deià werde er nur sehr schwer jemanden finden, der auf Almosen angewiesen sei. Sicher, einige im Dorf würden schon Not leiden, wenn sie nicht von ihrer Familie oder Nachbarn unterstützt würden. So gebe es den Krüppel, der sich nicht zu helfen wisse, aber der werde von seiner Schwester gepflegt. Oder die einfältige Frau, die nicht für sich sorgen könne, aber die erhalte ihr Mittagessen bei einem Nachbarn und das Abendbrot bei einem anderen.
Wenn der Wohltäter also nicht jemanden finden könne, dem die ganze Familie gestorben sei, dann wisse er, der Priester, auch keinen Rat.
Da ging der Wohltäter ins Dorf und fand nach einer Weile zwei alte Männer, die Not zu leiden schienen. Er bot ihnen seine Hilfe an. Er erste lehnte empört ab und stellte fest, dass er durchaus noch rüstig genug sei, um zu arbeiten. Der zweite aber nahm die milde Gabe an und bemerkte, er werde das Geld sehr gerne seiner armen Tochter schicken, die in New York lebe.
Auf den Reisenden wirkt dieses ursprüngliche Dorf auf dem Hügel mit seinen steilen, gewundenen Gassen auch heute noch still und zurückgezogen. Außer der Kirche, dem weiten Blick und den anderen Touristen gibt es nicht so viel zu sehen.
Für diesen Reisenden besteht Deià hauptsächlich aus der Landstraße von Valldemossa nach Soller mit den Gebäuden, die sich entlang dieser Straße reihen. Hier findet er die Geschäfte, Galerien, Bars, Restaurants, Hotels und Immobilienagenturen, die Leben und Träume versprechen.
Der Ort hat seine Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Das geschah insbesondere in den 60er, 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, als aus einem verschlafenen mallorquinischen Dorf ein internationaler Treffpunkt wurde. Damals wurde das „Künstlerdorf“ gemacht. So wird es heute noch in den Medien, den Reisekatalogen und den Hotelprospekten genannt. Wenn du kommst, dann glaubst du das auch, denn der Ort hat sich seinem Image perfekt angepasst.
Aber warum ist Deià eigentlich ein „Künstlerdorf“?
Oder anders gefragt, wer sind denn diese Künstler?
Meine Antwort findest du hier in einer Reihe von 12 Portraits, die nach und nach erscheinen werden: Drei Schriftsteller, drei Maler, drei Musiker und drei Lebenskünstler.
Die Liste
Schriftsteller
Robert Graves
Die Geschichte von Robert, der sich selbst und Deià erfand.
Jakov Lind
Die Geschichte von Heinz, der Jakov wurde und sich verstellte, um er selbst zu bleiben.
Luke Rhinehard
Die Geschichte von Luke, der vergeblich einen Bestseller plante und nebenbei ein Kultbuch schrieb.
Maler und Bildhauer
Antoni Gelabert
Die Geschichte von Antoni, dem Friseur, Maler und Selbstmörder.
Domenico Gnoli
Die Geschichte von Domenico Gnoli, Yannick Vu und Ben Jakober, deren Leben das Schicksal unlösbar miteinander verknüpfte.
Mati Klarwein
Die Geschichte von Mati, dem berühmtesten unbekannten Künstler der Welt.
Musiker
Ramón Farrán
Die Geschichte vom braven Ramón und den wilden Clubs und Discos an der Plaza Gomila.
Soft Machine
Die Geschichte von der Band, die den Psychedelic Rock erfand, und von ihrem Sänger, der kein Star sein wollte.
Pa amb Oli Band
Die Geschichte einer Dorfband.
Lebenskünstler
Bill und Jackie Waldren
Die Geschichte von Bill dem Eiskunstläufer ohne Schulabschluss, der in Deià etwas entdeckte, mit dem er in Oxford promovierte.
Hippies in L-S-Deià
Die wahre Geschichte von Sex and Drugs and Rock’n Roll.
Axel Ball
Die Geschichte von Axel, der Deià neu erfand.

Warum gerade Deià?
Der Poet Robert Graves hat die These vertreten, dass Deià deshalb viele Künstler angezogen hat, weil in den Bergen des Tramuntana-Massivs, die den Ort so eng umfassen, besonders große Mengen an Eisen lagern und einen magischen Magnetismus ausüben.
Dieser Mythos wird bestritten, nicht zuletzt von seinem eigenen Sohn, einem Geologen. Aber es ist doch unbezweifelbar so, dass tatsächlich viele kreative Menschen hier her fanden, als wären sie einem unfehlbaren inneren Kompass gefolgt.
Vielleicht war es nicht der Magnetismus der Berge, aber irgendetwas muss es gewesen sein, das diese spezielle Magie auf so verschiedene Künstler wie Robert Graves, Bill Waldren und Mati Klarwein ausgeübt hat.
Beschäftigst du dich mit ihren Liedern, Bildern, Texten und Geschichten, dann entdeckst du schnell eine erstaunliche Gemeinsamkeit: Die Künstler wurden hierher gezogen, weil sie unter etwas litten, das dann zur Quelle ihrer Schöpfungskraft wurde. Sie alle litten unter dem Gegensatz zwischen einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und einem verunsichernden Gefühl bedrohter Identität.
Vielleicht liegt die ganze Magie schon in der gewaltigen Natur des Tales, von der Santiago Rusiñol sagte „Was ist ein Bürgermeister, ein Richter oder ein Pfarrer, wenn man sie mit einem Abgrund vergleicht?“. Vielleicht zwingt das Tal von Deià Menschen, die ohnehin dafür empfänglich sind, die Frage auf: „Wer bin ich?“. Und wenn dieser stumme Schrei nachts von den Hängen des Teix hallt, dann ist „Wer immer du sein willst!“ die Antwort.
Das Leiden an diesem Widerspruch hatte bei jedem Künstler eine andere Ursache und bildete doch bei allen ein mächtiges Kraftwerk. Der Ort in den Bergen setzte eine Energie frei, die sie an die Grenzen der Wahrnehmung trieb. Und was sie dort in Narziss’ flirrendem Spiegel erblickten, waren tausend Masken aber kein Gesicht.
Das Leiden war der Preis, den sie alle zahlten, aber der Gewinn war die Freiheit. Es ist immer wieder erstaunlich und teilweise geradewegs unglaublich, wie radikal sich die Künstler von Deià in ihrer Arbeit neu erfunden haben.

Natürlich ist diese Interpretation ein wenig steil – aber andererseits auch nicht steiler als Graves’ Magnetismusthese. Selbstverständlich kamen auch eher bürgerliche Künstler nach Deià, die – inspiriert von der wunderschönen Landschaft – einige Jahre oder Jahrzehnte diszipliniert arbeiteten und ihr Leben organisierten, abhängig jeweils von ihrem Glück, ihrem Talent oder beidem. Aber es ist doch auffällig, wie ähnlich die Beschreibungen sind, die viele der eigentlichen Protagonisten der Szene von sich und ihrem inneren Widerspruch gegeben haben.
Titelfoto „Party at the Tower“ (c) Bob Jones.
Eine sehr schöne lexikalische Übersicht über die Künstler von Deià bietet das 2018 erschienene Buch Deià Heydays von Oona Lind und Jackie Waldren (bestellbar über die Webseite, € 25,00 inklusive Versand).
Ein Gedanke zu “Die Künstler von Deià”