/ Startseite / Figaros Hochzeit
Figaros Hochzeit begeistert als Oper seit über zweihundert Jahren. Das liegt an der genialen Musik, mit der Mozart die Komödie vertont hat, ganz klar. Aber der besondere Erfolg ist sicher auch der Figur des Figaro geschuldet, diesem stets fröhlichen Hasardeur, dessen abgrundtiefer Pessimismus dem Leben und den Menschen gegenüber erst auf den zweiten Blick auffällt.
Etwa in diesem Monolog:
Welch seltsame Folge von Zufällen! Warum geschieht mir das? Warum gerade das und nichts anderes? Wer hat das bestimmt?
Den Weg, den ich gehen muss, habe ich betreten, ohne es zu wissen, und ich werde ihn wieder verlassen, ohne es zu wollen. Ich habe ihn mit so vielen Blumen bestreut, wie meine Fröhlichkeit hergab. Ich sage meine Fröhlichkeit, doch weiss ich nicht mal, ob sie mir gehört, mehr als das andere.
Weiß nicht einmal, wer dieses Ich ist, mit dem ich mich plage: eine formlose Masse ununterscheidbarer Teile; dann ein schwaches Geschöpf; ein kleines, tolles Tier; ein lebenslustiger junger Mann, der alles genießt, alles macht, um zu leben, mal Herr ist, mal Diener, wie es dem Schicksal gefällt; ehrgeizig aus Eitelkeit, fleissig aus Not, aber faul – mit Vergnügen! Redner, wenn Gefahr droht; Dichter zur Erholung; Musiker bei Gelegenheit; und verliebt, wenn es ihn erwischt; ich habe alles gesehen, alles getrieben, alles genossen.
Am Ende habe ich eingesehen, es sind Illusionen und allzu realistisch … realistisch …
Wenn du verstehen willst, wer Figaro wirklich ist, dann musst du den Mann kennenlernen, der ihn erfunden hat – Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais.
Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais
(24. Januar 1732 – 18. Mai 1799)
Pierre-Augustin Caron erlebte im Frankreich des ausgehenden Rokoko den unglaublichen Aufstieg vom Sohn eines kleinen Uhrmachers zum Superreichen, der sich im engsten Kreis des Köngs bewegte. In seiner Jugend erfand er eine bedeutende technische Verbesserung für mechanische Uhren, die heute noch in Gebrauch ist; er brachte den Töchtern des Königs von Frankreich das Harfespiel bei; er lieferte Waffen für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg; er schrieb mehrere überaus erfolgreiche Theaterstücke, darunter Le Mariage de Figaro.
Seine Karriere am französischen Hof begann damit, dass er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau anfing, deren kränklicher Mann zwei wichtige Hofämter inne hatte. Es spricht für den besonderen Charme des gerade Zwanzigjährigen, dass er nicht nur das Herz der Frau eroberte, sondern auch mit ihrem Gatten ein gutes Verhältnis pflegte. So gut, dass er diesem eines der Hofämter abkaufen konnte, wobei seine Geliebte den Kauf finanzierte. Während Pierre-Augustin noch daran arbeitete, auch an das zweite, wesentlich lukrativere Amt zu kommen, verstarb leider der Amtsinhaber.
Das Trauerjahr war noch nicht vorüber, als der junge ehrgeizige Mann seine Geliebte heiratete. Er konnte sich weiterhin Hoffnung auf das begehrte Amt machen. Pierre-Augustin, der eigentlich mit Nachnamen nur Caron hieß, begann in dieser Zeit sich Caron de Beaumarchais zu nennen, nach einem Besitz in der Nähe von Versailles, der seiner Frau gehörte. Das klang hübsch adelig, war aber nichts als ein Fake.
Unglücklicherweise starb seine zehn Jahre ältere Frau schon im Jahr nach der Hochzeit. Ob dies den Ehemann emotional traf, ist nicht überliefert, wirtschaftlich gesehen schien es sich eher vorteilhaft auszuwirken, denn ihm stand nun ein schönes Erbe ins Haus, zu dem unter anderem auch der Anspruch auf das besagte Hofamt gehörte.
Spätestens in dieser Zeit kam das böse Gerücht auf, beim Tod seiner Frau und deren ehemaligen Gatten sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, Beaumarchais habe da wohl etwas nachgeholfen.
Wie gesagt, ein böses Gerücht, das niemals nachgewiesen wurde. Bei ruhiger Überlegung spricht mehr dagegen als dafür, denn es hätte allem Anschein nach wenig Sinn gemacht, den alten Amtsträger aus dem Leben zu befördern, bevor dieser sein Amt übergeben hatte. Denn nach dessen Tod war das Geschäft viel unsicherer geworden. Auch durch den Tod seiner Frau hatte Beaumarchais nur Nachteile: verschiedene Verwandte erhoben Klage; der Ehevertrag war nicht ganz wasserdicht; der Wittwer verlor einen wichtigen Prozess und es hieß Adieu schönes Hofamt.
Der große Voltaire hielt den Verdacht für unglaubwürdig, sei doch Beaumarchais viel zu leichtsinnig für einen Giftmord, der ja bekanntermassen eine Kunst sei, die ein hohes Mass an Vorsicht erfordere. Das, befand der Dichter, passe einfach nicht zu Beaumarchais.
Eigentlich interessant ist heute weniger die Frage, ob an dem Gerücht etwas dran war, sondern vielmehr, warum es dieses Gerücht überhaut gab. Wann setzt man so etwas in die Welt, warum wird es geglaubt? Ein Gerücht wirkt immer dann am besten, wenn es eine Geschichte erzählt, die gut wahr sein könnte. Der Ursprung ist fast immer Neid oder Rache, aber plausibel wird das Gerücht dadurch, dass andere dem Betroffenen das zutrauen, was ihm nachgesagt wird. Offensichtlich trauten damals viele dem Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais jede Form von Unmoral zu – sogar einen Doppelmord.
Als Suzanne ihren Figaro fragt, ob es denn mehrere Wahrheiten gebe, antwortet der:
Natürlich … die Schwüre der Verliebten, die Drohungen der Mütter, die Beteuerungen der Säufer, die Versprechungen einflussreicher Leute, die Sonderangebote der Händler – es nimmt kein Ende.
Die Gerüchte der Neider hätte er zu dieser Aufzählung noch hinzufügen können.
Als Figaro glaubt, Suzanne betrüge ihn mit dem Grafen, lässt Beaumarchais ihn kühl sagen:
Unsere Beziehung ist ernst und rechtfertigt meinen Zorn, aber nicht so ernst, dass ich sie nicht verlassen und eine andere heiraten könnte.
Treu war Beaumarchais nur sich selbst und seiner Familie.

Wenn Figaro einen Haufen Leute ins Schloss von Almaviva führte, dann nicht um es zu stürmen und sich an die Stelle seines Herrn zu setzen. Diese Menge stellte gar keine Forderungen.
In Mozarts Figaro singt der Chor in den Worten von Lorenzo da Ponte, aber ganz im Sinne Beaumarchais’:
Ihr fröhlichen Leute,
streut aus Eu’re Sträuße,
streut aus sie vor unserem edelen Herrn.
Hört sich nicht gerade revolutionär an.
Was den König vielleicht eher gestört hat, war die respektlose Amoralität, die die Komödie verströmt. Amoralität war die Antwort des Autors auf den Zufall, der ständig alle Absichten und Pläne – auch die bestgemeinten – zu Fall bringt.
Figaro. Der Zufall, Liebste, hat besser für uns gesorgt als wir selbst. So ist das Leben. Wir haben gegrübelt, geplant und gemacht, aber das Glück hat alles so gelenkt, wie wir es uns gewünscht haben.
Die wahre Moral aus der Geschicht’ ist, dass es keine gibt. Und allen leuchtet das ein, nur den unverbesserlichen Optimisten nicht.
Figaro glaubt, dass Moral nicht hilft, damit die Welt besser wird, nur glücklicher Zufall.
Doch weil er es einfach nicht lassen kann, versucht es auch der Pessimist trotzdem. Wenn schon das eigene Glück nicht planbar ist, dann vielleicht das Unglück der anderen?
Figaro. Das ist doch ganz normal! Wie kann man sich besser an denen rächen, die unseren Plänen schaden, als wenn man die ihren durchkreuzt? Das macht jeder so, und wir werden es auch machen. Das ist alles.
Wolfgang Amadé Mozart
(27. Januar 1756 – 5. Dezember 1791)
Mozart war nur Mozart, wenn er komponierte. Sein besonderes Genie zeigte sich schon früh, etwa bei einem Auftritt im Jahr 1763, als er sich zum ersten Mal mit seiner Familie in Paris aufhielt und auf einer Art Wunderkind-Tour durch die Salons der Stadt gereicht wurde. Eine Dame forderte forderte ihn auf, sie auf dem Klavier zu begleiten, während sie eine Kavatine sang, die ihm völlig unbekannt war. Der erste Versuch überzeugte nicht, aber dann bat Mozart die Dame, noch einmal zu singen, und jetzt lieferte er die perfekte Begleitung. Aber es war nur eine Variante von Perfektion. Er bat die Dame, noch einmal zu singen, und begleitete sie erneut, aber ganz anders. Er bat sie noch einmal. Und noch einmal und noch einmal. Nach der zehnten Variante baten die Zuhörer dann ihn, doch bitte aufzuhören, es sei nun genug.
Der deutsche Intellektuelle Friedrich Melchior Baron von Grimm, der an diesem Tag unter den Zuhörern war, notierte:
Ich sehe es wahrlich noch kommen, daß dieses Kind mir den Kopf verdreht, wenn ich es noch öfter höre: es macht mir begreiflich, daß es schwer ist, sich vor dem Wahnsinn zu bewahren, wenn man Wunder sieht …
Das war übrigens der gleiche von Grimm, der vier Jahre später über Beaumarchais sagen sollte
Er hat nicht einen Funken gesunden Menschenverstandes und wird niemals etwas zustande bringen, außer etwas Mittelmäßiges.
Zuvor hatte er eine Aufführung von dessen erstem Theaterstück Eugénie gesehen.
Baron von Grimm lebte ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris und publizierte eine einflussreiche Zeitschrift, die Correspondance littéraire, philosophique et critique, die in vielen deutschen Adelshäusern gelesen wurde und sich mit Pariser Kultur und Klatsch beschäftigte.

Von Grimm wurde so etwas, wie ein Mentor für die Mozarts. Als Wolfgang Amadé im Jahr 1778 mit seiner Mutter nach Paris kam, um dort als Musiker Fuss zu fassen, lebte er drei Monate lang im Appartement des Barons in der Rue de Richelieu, nachdem seine Mutter überraschend gestorben war.
In dieser Zeit bekam der Baron einen ganz anderen Eindruck von seinem Schützling. Mozart war nur Mozart, wenn er komponierte. Ansonsten war er das Wolferl, ein unentschlossener junger Mann, der sich nicht genug umtat, um in Paris zu reüssieren. Von Grimm hätte es besser gefunden, wenn Mozart nur halb so viel Talent und doppelt so viel Lebensklugheit gehabt hätte. Aber Wolferl war träge, leichtgläubig, beeinflussbar und verschwenderisch.
Genau das schrieb der Baron auch an Mozarts Vater Leopold.
Der Vater spielte eine traurige Rolle im Leben des Musikers. Er versuchte zeitlebens seinen Sohn zu kontrollieren und dazu war ihm fast jedes Mittel recht. Er setzte ihn ständig emotional unter Druck und machte ihm ein schlechtes Gewissen. In der Korrespondenz von 1778 geht es immer wieder ums Geld: Geld machen, Schulden, verarmen, elendig zugrunde gehen, wenn nicht Geld, Geld, Geld gemacht wird.
Ganz übel waren die Vorwürfe, die Leopold seinem 22-jährigen Sohn wegen des Todes von Anna Maria Mozart machte. Sehr deutlich ließ er durchblicken, dass die Mutter, seine geliebte Frau, noch am Leben wäre, wenn das Wolferl sich nicht auf dem Weg nach Frankreich in Mannheim in eine junge Sängerin verliebt hätte – gegen des Vaters ausdrücklichen Rat – und deshalb die Weiterreise über jede Gebühr hinausgezögert hätte.
Leopold Mozart versuchte, so würde man heute sagen, seinen Sohn zu managen. Aber er war ein schlechter Manager. Er schirmte ihn nicht ab, sondern drohte, drängte und manipulierte. Er hatte offensichtlich nicht den Mut seine sichere Stelle in Salzburg aufzugeben und Verantwortung zu übernehmen für das, wozu Mozart nicht geeignet war, nämlich mit Geld umzugehen.
Das Ergebnis war katastrophal. Das Wolferl wurde aufmüpfig. Und der Mozart machte in Paris keine Karriere. Wolferl suchte ständig neue Ausreden und belog seinen Vater. Er flüchtete sich in Illusionen über seine Möglichkeiten, verschuldete sich bei seinem Gönner von Grimm und lästerte auch noch über ihn ab. Er fühlte sich unwohl in Paris, verabscheute die Franzosen, konnte sich aber auch nicht entscheiden, nach Salzburg zurückzukehren.
Ganz bezeichnend ist die Geschichte um die 15 Louisdor (heute etwa 10.000 Euro), die Wolferl sich von seinem zunehmend frustrierten Gönner geliehen hatte. Dazu schrieb er an seinen Vater am 11. September 1778:
Die grösste Guttat, die er mir erwiesen hat, besteht aus 15 Louisdor, die er mir nach und nach geliehen hat. Ist ihm etwa für diese bang? Wenn er da einen Zweifel hat, so verdient er wahrhaftig einen Fusstritt. Denn dann misstraut er meiner Ehrlichkeit, was mich wirklich wütend macht. Die 15 Louisdor werde ich ihm beim Abschied mit etlichen sehr höflichen Worten und mit Dank zurückgeben. Meine Mutter hat oft zu mir gesagt, ich weiss nicht, der kommt mir so ganz anders vor. Ich habe ihn aber immer verteidigt, obwohl ich heimlich auch davon überzeugt war, dass er mich niemandem empfohlen hat – und wenn, dann war es immer dumm und ungeschickt. Niederträchtig.
Fakt ist, Wolferl zahlte die 15 Louisdor natürlich nicht zurück, als er kurz danach Paris verliess. Trotzdem organisierte von Grimm noch seine Heimreise.
Dem Wolferl und dem Mozart ging Freiheitsstreben über alles. Im Februar 1778 schrieb er an seinen Vater:
Vornehme Leute müssen nie nach Lust und Liebe heiraten, sondern nur aus Vernunftinteresse und allerhand Nebenabsichten. Es stünde solch hohen Personen auch gar nicht gut an, wenn sie ihre Frau etwa noch liebten, nachdem die schon ihre Schuldigkeit getan und ihnen einen Erben zur Welt gebracht hat. Aber wir armen, gemeinen Leute, wir müssen nicht nur eine Frau nehmen, die wir lieben und die uns liebt, sondern wir dürfen, können und wollen so eine nehmen.
Dieses Bekenntnis zu einer bürgerlichen Freiheit hätte Beaumarchais gewiss gefallen. Und die beiden hatten noch mehr gemeinsam: Sie spürten das nahende Ende des feudalen Zeitalters, sie liebten das Theater und die Musik und sie waren beide am Ende ihres Lebens pleite.
Im Gegensatz zum fröhlichen Pessimisten Pierre-Augustin war Wolferl ein fröhlicher Optimist. Ständig machte er sich Illusionen. Alles wird gut! Wenn Beaumarchais am Ende seines Lebens pleite war, dann weil andere Leute ihre Schulden bei ihm nicht zahlen wollten. Mozart dagegen war pleite, weil er seine Schulden bei anderen Leuten nicht begleichen konnte.
Anders als Mozart war Beaumarchais umtriebig, brachte sich ins Gespräch, warb unablässig für sich und seine Projekte. Alles was er anfing – und er fing vieles an – betrieb er hochkonzentriert und mit dem frischen, respektlosen Blick eines Dilettanten. Wenn er das Theater revolutionierte, dann einfach deshalb, weil es ihm nicht gefiel so wie es war. Aber seine Lebensbestimmung war nicht die eines Theaterautors. Das Schreiben betrieb er zur Entspannung. Doch wenn er schon schrieb, wollte er auch wahrgenommen werden, wollte den Erfolg und tat alles für die Wirkung seiner Dialoge auf das Publikum.

Mozart jedoch hasste es, sich bewerben zu müssen. Wenn er nicht das Wolferl war, dann war er ganz und gar genialer Musiker. Aufgrund seiner profunden Kenntnisse von und der dauernden Beschäftigung mit dieser einen Kunst gelang ihm eine ganz neue Musik, schuf er einzigartige Werke. In der Musik war er überaus professionell, raffiniert, ja berechnend. Er tat alles für ihre Wirkung auf das Publikum.
Als die Komödie Le Mariage de Figaro am 27. April 1784 von der Comédie-Française uraufgeführt wurde, übertraf sie aus dem Stand alle bisherigen Einnahmerekorde. Ihr Ruhm verbreitete sich in Windeseile in ganz Europa. In Wien verbot Kaiser Joseph II. zwar die Aufführung, aber der Text durfte verkauft werden. Mozart, der im Oktober 1780 in Salzburg bereits eine Aufführung von Beaumarchais’ Barbier von Sevilla gesehen hatte, besorgte sich eine Kopie des Figaro.
Mit dem Figaro wurde alles anders. Der geschäftlich so träge Mozart, der es liebte angesprochen, gebeten, beauftragt zu werden, wollte diese Geschichte und war von Anfang an überzeugt, aus dem Stoff eine große Oper machen zu können. Er wurde aktiv, er warb beim Hofdichter Lorenzo da Ponte für seine Idee.
Lorenzo da Ponte
(10. März 1749 – 17. August 1838)
Dieser Lorenzo da Ponte war, wie Beaumarchais, ein Hasardeur und ein Pessimist. Aber anders als jener war er ein larmoyanter Mensch. Während Pierre-Augustin noch in der größten Katastrophe ein fröhliches Lied summte, stimmte Lorenzo Klagelieder an über die Ungerechtigkeit der Welt – vor allem ihm gegenüber.
Er hatte viel unternommen in seinem fast 90-jährigen Leben. Als Kind eines jüdischen Gerbers war er mit seinem Vater zum Christentum konvertiert und nahm den Namen seines bischöflichen Taufpaten an – Lorenzo da Ponte. Der aufgeweckte Junge war ins Priesterseminar aufgenommen worden und dort schon mit gerade zwanzig Jahren als Dozent tätig. Das süsse Leben lockte ihn nach Venedig, wo er einer schönen Frau und der Spielsucht verfiel. Aufgrund seiner Beteiligung an einer politischen Intrige musste er fliehen und gelangte über Dresden nach Wien. Durch Empfehlung wurde er dort 1782 zum Hoftheaterdichter ernannt, obwohl er noch nie in seinem Leben ein Libretto geschrieben hatte. Nachdem ihm in der Zusammenarbeit mit Mozart einige der schönsten Opern aller Zeiten gelungen waren, verliess er Wien, lebte unter anderem in London, von wo aus er mit seiner Familie schuldengeplagt nach Amerika auswanderte. In New York hielt er sich als Krämer und Nachhilfelehrer über Wasser, seine künstlerischen Projekte aber waren wenig erfolgreich.

Mit über sechzig Jahren begann er seine Memoiren zu schreiben, also fast 30 Jahre nach den Ereignissen um den Figaro, von daher musst du ihm Irrtümer verzeihen. Gerade nach diesem unruhigen Leben. Aber manchmal kannst du dich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine gut erzählte Geschichte immer noch der Wahrheit vorzog. Vorsicht ist also angebracht, wenn der Autor die einzige Quelle ist.
Auf der anderen Seite zeugt da Pontes Selbstironie von einer gewissen Ehrlichkeit. An seiner ersten Arbeit in Wien mit dem Titel Ricco d’un giorno für den Hofkapellmeister Antonio Salieri liess er fast kein gutes Haar. Mit „hängenden Ohren“ sei er schließlich mit dem fertigen Libretto zu Salieri geschlichen. Er berichtet:
Salieri las es sofort und sagte dann: ‚Es ist gut geschrieben … jedoch müssen Sie um der musikalischen Wirkung willen einige kleine Änderungen vornehmen.’ Worin bestanden nun aber die Änderungen? In Kürzungen oder Erweiterungen der meisten Szenen, im Einlegen neuer Duette, Terzette, Quartette und so weiter, in Veränderungen der Versmaße, in der Einfügung von Chören, in der Abkürzung aller Rezitative und folglich der ganzen Handlung und des Zusammenhangs.
So schreibt niemand, dem es nur darum geht, seine eigene Bedeutung aufzupolieren.
Lorenzo da Ponte, der 1781 oder 1782 nach Wien gekommen war, lernte Wolfgang Amadé Mozart möglicherweise Anfang 1783 kennen, vermutlich im Hause des reichen Mäzens und Mozart-Förderers Raimund Wetzlar Freiherr von Plankenstern. In diesem Jahr hatte sich der frisch gebackene Hoftheaterdichter der komischen Oper zugewandt und es war verabredet, dass er nach einem Stoff für Mozart suchen sollte – damals das übliche Vorgehen. Der Dichter musste zunächst aber Il ricco d’un giorno für Salieri fertig stellen und begann danach mit Il Burbero di Buon Cuore für den Komponisten Martín y Soller, das er im Herbst 1785 abschloss. Irgendwann hatte ihm Mozart vorgeschlagen, doch Beaumarchais’ Kömodie Le mariage de Figaro zu bearbeiten (auch das stellt da Ponte korrekt dar). Dies geschah nach da Pontes Erinnerung wenige Tage nachdem die Aufführung des Theaterstücks am 3. Februar 1785 vom Kaiser verboten worden war. Wohl im Herbst des Jahres begannen die beiden ernsthaft mit der Arbeit an Text und Musik, denn Mozart entschuldigte Anfang November dem Vater gegenüber das Ausbleiben von Nachrichten seit Anfang September damit, dass er dringend Le Nozze di Figaro abschliessen müsse. Da Ponte zufolge war das Stück in nur sechs Wochen fertig.

Der Dichter selbst, so beschreibt er es, bot dem Kaiser das Stück bei passender Gelegenheit an, möglicherweise im Januar 1786. Es soll sich folgender Dialog entsponnen haben:
Kaiser. Diese „Hochzeit des Figaro“ habe ich schon der Gesellschaft des deutschen Theaters verboten.
Hoftheaterdichter. Ich weiss es, aber da ich eine Oper und nicht eine Komödie geschrieben habe, musste ich mehrere Szenen ganz weglassen und viele andere stark kürzen. Ich habe dabei alles weggelassen, was gegen den Anstand und die Sitte verstösst.
Kaiser. Gut, wenn sich die Sache so verhält, verlasse ich mich hinsichtlich der Musik auf Ihren guten Geschmack und hinsichtlich des Textes auf ihre Klugheit und Geschicklichkeit.
Trotz einiger Intrigen von Neidern um den kaiserlichen Intendanten Graf Orsini-Rosenberg konnte der Figaro dann am 1. Mai 1786 uraufgeführt werden.
Zunächst klingt es recht unwahrscheinlich, dass ein Librettist, der relativ neu in der Stadt war, regelmäßige Unterredungen mit dem Kaiser geführt haben soll. Selbst wenn er sich „Hoftheaterdichter“ nennen durfte, besaß da Ponte doch nicht einmal die Sonderstellung eines poeta cesareo, wie sein Vorgänger Metastasio.
Allerdings war der Zugang zur adligen Gesellschaft für bekannte Künstler zu der Zeit ganz normal. In Gegenwart von Beaumarchais führte etwa die königliche Familie von Ludwig XVI. den Barbier von Sevilla in Versailles auf, mit Königin Marie-Antoinette als Rosina.
Es ist also durchaus möglich, dass Lorenzo da Ponte tatsächlich mit dem Kaiser mehrfach über den Figaro sprach. Umsomehr als Joseph II. sich ganz besonders für die Oper interessierte und faktisch als sein eigener Theaterdirektor agierte.
Aber dennoch gehörten Künstler natürlich zum niederen Volk. Wenn die Aufführung beendet, der Beifall verklungen war und die Herrschaften sich zur Tafel begaben, dann mussten Musiker und Dichter in die Speisesäle der Bediensteten hinabsteigen und dort mit Köchen und Kutschern ihr Mahl teilen.
Mozart hat sich arg darüber beschwert:
Mittags um zwölf – leider für mich ein bisschen zu früh – gehen wir schon zu Tisch. Da speisen die zwei Herren Kammerdiener, der Herr Controleur, Herr Zetti, der Zuckerbäcker, zwei Herren Köche und meine Wenigkeit. Die Herren Leibkammerdiener sitzen oben an. Ich habe doch wenigstens die Ehre, vor den Köchen zu sitzen.
Die etwas paradoxe Stellung der Künstler war sicher auch mit ein Grund, warum viele von ihnen der feudalen Ordnung kritisch gegenüber standen – sie waren halt einfach zu nah dran und gehörten doch nicht dazu.
Wie musst du dir nun die Arbeitsaufteilung zwischen dem Librettisten und dem Komponisten vorstellen? Mozart hatte bereits im Jahr 1783 die Idee zu einer komischen Oper, die er so beschrieb:
Das Notwendigste dabei aber ist … zwei gleich gute Frauenzimmerrollen hinein zu bringen. Die eine müsste seria, die andere aber Mezzo Carattere sein, aber an Güte müssten beide Rollen ganz gleich sein. Das dritte Frauenzimmer kann aber ganz buffa sein, wie auch alle Männer, wenn es nötig ist.
Er konnte zu dieser Zeit Le Mariage de Figaro noch nicht kennen, denn die Uraufführung fand erst etwa ein Jahr später statt. In seiner Idee waren aber bereits die Figuren der Gräfin (seria), der Susanna (Mezzo Carattere) und der Marcellina (buffa) angelegt. Das Projekt zu L’oca del Cairo („Die Gans von Kairo“) wurde im Juli 1783 konkret, verlief aber bereits im Oktober im Sande, weil Komponist und Librettist (Varesco) keinen gemeinsamen Nenner fanden. Mozart hatte da bereits sieben von zehn Musiknummern für den ersten Akt geschrieben. Im folgenden Jahr scheiterte ein weiteres Projekt unter dem Titel Lo Sposo Deluso an der Unmöglichkeit eine plausible Handlung zu konstruieren.
Diese Schwierigkeiten unterstreichen die Bedeutung des Librettisten für den Erfolg einer Oper. Im gleichen Brief an den Vater (07. Mai 1783) erwähnte Mozart auch Lorenzo da Ponte:
Wir haben hier einen gewissen Abbate da Ponte als Poeten. Dieser … muss per obligo ein ganz neues Büchel für den Salieri machen … dann hat er mir ein neues zu machen versprochen. Wer weiss nun, ob er dann auch sein Wort halten kann – oder will. Sie wissen sehr wohl, die Herrn Italiener sind ins Gesicht sehr artig!
Es ist bekannt, dass Mozart ganz klare Vorstellungen von der Funktion des „Büchel“ besaß. Schon 1781 hatte er seinem Vater geschrieben:
Bei einer Oper muß die Poesie eine gehorsame Tochter der Musik sein … Eine Oper wird besser gefallen, wenn der Plan des Stücks gut ausgearbeitet ist, die Worte aber nur für die Musik geschrieben sind und nicht um hier und dort einen schlechten Reim zu machen … Am besten ist es, wenn ein guter Komponist, der das Theater versteht und Vorgaben machen kann, und ein guter Poet zusammen kommen.

Lorenzo da Ponte wiederum sah seine Aufgabe darin, ein Libretto zu schreiben, das zum Temperament des Komponisten passte. Beaumarchais’ Spezialität waren elegante Wortwechsel, die oft vor Ironie trieften (dass er es einfach nicht schaffte, auch mal eine Pointe liegen zu lassen, wurde ihm mehrfach vorgeworfen). Diese Lust am Dialog machte seinen Figaro kompliziert und undurchsichtig. Da Ponte kürzte und vereinfachte die Handlung. Zudem hob er die emotionalen Stellen hervor, was Mozart sicher entgegen kam. Auf der Grundlage eines gemeinsam entwickelten Handlungsgerüstes und einer Charakterisierung der Personen begann Mozart mit der Komposition von Musiknummern. Die Verse stammen von da Ponte und vermutlich bearbeitete er diese so lange, bis sie perfekt zur Musik passten, ganz wie von Mozart gewünscht.
Aus einem kurzen Wortwechsel:
Gräfin. Er liebt mich gar nicht mehr.
Suzanne. Warum dann diese Eifersucht?
Gräfin. Wie bei allen Ehemännern, Suzanne, nur aus Stolz. Ach, ich habe ihn zu sehr geliebt! Meine Zärtlichkeit hat ihn ermüdet und meine Liebe ist ihm lästig geworden; das muss ich mir vorwerfen.
wurden so die sehnsuchtsvollen Verse einer Kavatine:
Liebe, lind’re meinen Schmerz
und meine Traurigkeit.
Gib mir meinen Geliebten zurück
oder lass mich sterben!
Im März 1793 hat Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais übrigens die Opernfassung seines Figaro in Paris gesehen. Es handelte sich um eine französische Übersetzung der Liedtexte, die zusammen mit dem Text der Komödie aufgeführt wurden. Man mag sich kaum vorstellen, was dabei herauskam. Beaumarchais jedenfalls war nicht begeistert.
Vorheriger Teil: Der 4. Akt
Fortsetzung: Drei Figaro-Inszenierungen – immer das Gleiche?
Bildverzeichnis:
Titelbild: Altes Burgtheater, Radierung aus dem 19. Jahrhundert, Künstler unbekannt
Émile Bayard, Figaro, undatiert
Jean-Marc Nattier, Portrait Caron de Beaumarchais, ca. 1762
Foto einer Uhr, eines der wenigen erhaltenen, von Beaumarchais gefertigten Exemplare
Belliard, Portrait Caron de Beaumarchais, undatiert
Antoine Meunier, La Comédie-Française, undatiert
Park der Maison Beaumarchais, Datum und Künstler unbekannt
Barbara Krafft, Portrait Wolfgang Amadé Mozart, 1819
Louis Carrogis (Carmontelle), Mozart am Klavier, 1763
Louis Carrogis (Carmontelle), Baron von Grimm, 1769
Samuel Morse (zugeschrieben), Portrait Lorenzo da Ponte, 1830
Francesco Guardi, Ansicht von Venedig, 1750er Jahre
Portrait Kaiser Joseph II. von Österreich, undatiert, Künstler unbekannt
Gustav Klimt, Zuschauerraum im alten Burgtheater, 1888