Auf Mallorca gibt es einen Weihnachtsbrauch, der zu den ältesten und seltensten Riten des Christentums gehört. Über viele Jahrhunderte lang wurde er ausschließlich im hoch oben im Tramuntanagebirge gelegenen Wallfahrtsort Lluc, in Palma de Mallorca und in dem kleinen Städtchen Alghero auf Sardinien ausgeübt.
Der Brauch gehört heute zum intellektuellen Weltkulturerbe der Unesco und seine Geschichte reicht weit zurück in vorchristliche Zeiten.

Bereits im vierten Jahrhundert vor Christus erwähnte Platon in seinem Dialog „Phaidros“ (am Beginn des 22. Kapitels) die Sibylle, eine weise Seherin, die in Ekstase die Zukunft voraussehen konnte und vor drohenden Gefahren warnte: „Und wenn wir gar von der Sibylle reden wollten und allen, die sonst in der Erleuchtung göttlicher Begeisterung oft und viel den Menschen durch Weissagungen für die Zukunft zum Heil geworden sind, so würden wir lange nicht fertig werden mit allbekannten Geschichten„.
Die älteste und bedeutendste Vorhersage wird der sogenannten „erythräischen“ Sibylle zugeschrieben und betrifft das Ende der Welt:
An diesem Tag wird die Sonne ihren Glanz verlieren und die Erde wird zittern in Furcht.
Ein mächtiger Donner wird die Menschen mit zornigem Grollen in tiefe Verwirrung stürzen, erfüllt von Blitzen und Todesschreien.
An diesem Tag wird Feuer vom Himmel regnen und ein Gestank von Schwefel wird sich legen über die brennenden Städte und Länder.
Und die Menschen werden in großem Schrecken herumirren.Dann, am Ende des Tages, wird die Erde beben wie niemals zuvor.
Felsen werden zerbersten und Berge werden einstürzen.
Und die Welt wird untergehen.

Zwar gab es in der Antike eine Tradition echter Weissagung, wie zum Beispiel das Orakel von Delphi oder die Vorhersage des Weltuntergangs der erythräischen Sibylle. Aber im Lauf der Zeit wurde diese Tradition immer mehr zum Instrument politischer und religiöser Begründung. Voraussagen wurden in der Regel erst nach Eintritt eines bestimmten Ereignisses verfasst und dienten seiner Interpretation. Ein gutes Beispiel dafür ist die Wahrsagung der tiburtinischen Sibylle. Der Legende nach befragte der erste römische Kaiser Augustus am Tag vor seiner Inauguration die Sibylle, ob er der größte aller Herrscher werden würde. Das war im Jahr 35 vor Christus. Die Sibylle weissagte ihm, dass im Osten ein Kind von einer Jungfrau geboren und ein noch viel größerer Herrscher werden würde. Verfasst wurde diese angebliche Prophezeiung aber wohl erst im 2. Jahrhundert nach Christus.
Auch das Judentum übernahm sibyllinische Voraussagen und vermische sie mit mit Narrativen des mosaischen Glaubens.
In Rom hatte die Sibylle ebenfalls eine erhebliche politische Bedeutung. Der Dichter Vergil erwähnt wenige Jahrzehnte vor Christus in seiner Aeneis (am Beginn des 6. Buches) die Sibylle:
„Aber der fromme Aineias, er eilt …
zu der riesigen Kluft der Sibylla,
Wo sich die grause verbirgt, der Delos‘ Seher den großen
Geist und Verstand einhaucht und den Blick aufschließt in die Zukunft„.

Bildliche Sybillen-Darstellungen sind dagegen vor dem späten Mittelalter sehr selten. Eine der wenigen findet sich in den Fresken der Abteikirche Sant’Angelo in Formis (11. Jahrhundert).

Erst mit Beginn des 14. Jahrhunderts wird die Sibylle ein beliebtes Thema in Malerei und Bildhauerei. Darstellungen aus dieser Zeit finden sich auch in verschiedenen Ausgaben des „Speculum Humanae Salvationis“, eines im 14. und 15. Jahrhundert ausserordentlich erfolgreichen Traktats mit religiösen Erzählungen, das in ganz Europa weit verbreitet war.

Als das Christentum im 4. Jahrhundert zur führenden Religion im Mittelmeerraum aufgestiegen war, versuchte der Kirchenvater Augustinus von Hippo den neuen, primitiven Glauben mit den alten Mythen und den besten philosophischen Überlegungen der Antike zu verbinden.

In einer neuen Adaptionsschicht übernahm er in seiner Schrift De Civitate Dei (18, 23) die sibyllinische Endzeitprophezeiung als Tag des Jüngsten Gerichts. Seine Begründung: Die Anfangsbuchstaben der alten griechischen Verse im achten Buch der sibyllinischen Weissagungen (Zeile 217 bis 243) ergeben die Worte „Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland“ und die Anfangsbuchstaben dieser Worte wiederum das Wort „Fisch“ (siehe Abbildung), eine geheime Bezeichnung für Jesus. Doch bei seiner Quelle handelt es sich bereits um eine christliche Einschreibung, wahrscheinlich aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.
Eine solche Geheimbotschaft (Akrostichon) galt zur Zeit des Augustinus als überzeugender Beweis und wie viele andere war auch er der Meinung, dass die Sibyllen als Vorläuferinnen der Propheten des Alten Testaments anerkannt werden müssten.
Die erythräische Endzeit-Dystopie faszinierte den Bischof von Hippo, der ohnehin glaubte, dass der Mensch hoffnungslos verworfen sei aufgrund der Erbsünde. Ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen, wie fromm, hilfsbereit oder gerecht wir sind, wir können doch niemals einen Anspruch auf Erlösung erlangen.
Wenn wir verschont werden an diesem Tag, dann nicht durch eigene Verdienste, sondern einzig und allein durch die Gnade Gottes. Denn an diesem letzten Tag wird die Welt nicht einfach so untergehen, sondern Gott wird vom Himmel herabsteigen, um zu richten über die Lebenden und die Toten.
Der heilige Augustinus war vielleicht der bedeutendste aller Kirchenväter; er hat die christliche Religion geprägt wie kaum ein anderer. Trotzdem ist seine äußerst strenge Auslegung des Glaubens, die von Schuld, Sünde und Verdammnis beherrscht wird, von den meisten Christen nie richtig angenommen worden. War wohl einfach zu negativ. Auch im Lied der Sibylle heisst es in der letzten Strophe hoffnungsvoll:
Du aber, der du all dies angehört hast,
bete zu Gott aus tiefstem Herzen und mit deiner ganzen Hingabe,
damit wir gerettet werden.
Augustinus wäre mit diesem Deal, Gebet gegen Gnade, wohl kaum einverstanden gewesen.
Augustinus starb im Jahr 430. Die Erzählung von der Weissagung der Sibylle ging auch im dann folgenden dunklen Zeitalter nach dem Untergang des Römischen Reiches nicht verloren. Vielmehr entwickelten sich unterschiedliche Sibyllen-Figuren für unterschiedliche christliche Prophezeiungen. Sogar die Phrygia, die Priesterin des Orakels von Delphi wurde als Sibylle interpretiert, die angeblich schon lange vor seiner Geburt die Ankunft des Heilands vorausgesagt hatte. Die katalanische Sibil·la, die das Jüngste Gericht voraussagt, trägt die Züge der erythräischen Sibylle.

Fast 800 Jahre nach Augustins Tod taucht die Sibylle im Königreich von Aragón auf. Als König Jaime I. Mallorca 1229 von den Mauren eroberte, gelangte die alte Geschichte mit den Soldaten und Siedlern auf die Baleareninsel. Unbekannte Künstler fassten sie in Gedichtform und vertonten sie im Stil der gregorianischen Gesänge.

Jedes Jahr an Weihnachten trug eine Sängerin El Cant de la Sibil·la in der Kathedrale von Palma de Mallorca vor.
Im Jahr 1230 wurde an der Stelle eines jahrtausendealten, heidnischen Heiligtums das Kloster von Lluc erbaut. Auch in Lluc übernahmen die Menschen den Brauch und bis zum heutigen Tage singt hier die Sibylle zu Weihnachten ihr schauriges Lied vom Untergang der Welt.

Aber warum gibt es diese Tradition auch auf Sardinien? Peter IV. von Aragón, der Ururenkel von Jaime I., eroberte im 14. Jahrhundert große Teile von Sardinien, das seinem Vater 1329 vom Papst als Lehen zugesprochen worden war. 1354 nahm Peter den Ort Alghero ein, vertrieb die einheimische Bevölkerung und ersetzte sie durch aragonesische Siedler.
Zwar endete die Herrschaft Aragóns über Sardinien bereits im Jahr 1409, aber hier in Alghero wird noch heute Catalán gesprochen. Und auch der alte Weihnachtsbrauch des Gesangs der Sibylle ist in Alghero immer noch lebendig.