Carl Schulte saß im Sessel im Herrenzimmer seines Hauses in der Paulinenstraße und drehte eine qualmende Zigarre in den Fingern. Gerade vorhin hatte ein Bote die Fotos von der Herkomer Konkurrenz1 vorbeigebracht.

Die Einfahrt in München. Carl Schulte sitzt hinten in der Mitte.
Gott, war das lustig gewesen, die Fahrt im Automobil von Lüdenscheid nach Frankfurt, dem Startort der Rallye. Dann über München nach Wien und zurück nach München. Neun Tage hatten sie gebraucht – was für eine Expedition! Der festliche Korso durch München, das feierliche Dinner aller Teilnehmer am letzten Abend in Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit Prinz Heinrich von Preussens, dem Bruder des Kaisers. Carl setzte seine Brille auf und betrachtete eines der Fotos genauer.

Schau an, der Julius! Sein guter Freund im Gespräch mit einer Königlichen Hoheit! Macht Eindruck, der Julius Turck, wie er da so entspannt steht und plaudert. Fast ein Schwätzchen unter Gleichen, könnte man meinen.
Carl nahm die Brille ab und sog an seiner Zigarre. Wie gut doch alles war! Er, der immer zuversichtliche Sohn eines Landwirts aus dem 100-Seelen-Dorf Rixen bei Brilon, im tiefsten Sauerland, hatte sein Glück gemacht in der Industriestadt Lüdenscheid. Immerhin die Stadt mit den meisten Millionären in Preussen2. Millionäre, die ihn nun zu ihren Freunden zählten.

Carl ca. 1890
Carl Schulte aus Rixen, Fabrikbesitzer, der es wohl bald selbst zum Millionär bringen würde.
Eine glänzende Karriere
Tatkräftig war Carl schon immer gewesen. Und organisieren konnte er. Aber sein größtes Talent war sein Geschick im Umgang mit Menschen. Wer konnte ihm schon etwas abschlagen? Ihm, der immer so freundlich und entgegenkommend war und jedem sofort das Gefühl gab, man sei schon seit Jahren gut befreundet.
Julius Kremp hatte diese Talente erkannt und ihm eine Chance gegeben. Er hatte ihn eingestellt für seine neu gegründete Fabrik für Taschen- und Kofferbügel sowie Krawattenhalter. Schnell war Carl aufgestiegen vom Kommis zum Verkaufsleiter.
Wie einen Sohn hatte Julius ihn behandelt. Man verkehrte fast freundschaftlich miteinander und der Chef hatte ihm sogar eine Wohnung im Kremp’schen Privathaus angeboten, das auf dem Firmengelände an der Paulinenstraße lag.
Als Julius dann überraschend im Februar 1886 starb, mit nur 44 Jahren, da wurde der junge, energische Angestellte für die Familie unverzichtbar. Er hielt den Laden zusammen und schritt ein, als andere Lüdenscheider Fabrikanten die Witwe Ida zu einem unvorteilhaften Verkauf überreden wollten.

Maria Kremp 1893
Natürlich kannte Carl auch Maria, die schöne und selbstbewusste Tochter des Chefs. Spöttisch hatte sie ihn immer angesehen, wenn die beiden ab und zu ein paar Worte wechselten. Er war beeindruckt von ihrer guten Erziehung, ihrer Schlagfertigkeit und – ja, zugegeben – auch etwas verunsichert von ihrer spitzen Zunge und ihrem sarkastischen Humor. Sie wiederum fühlte sich hingezogen zu diesem gutaussehenden jungen Mann, dem alles leicht zu fallen schien, der immer so fröhlich und freundlich war. Außerdem – ihr Vater hatte ja auch große Stücke auf ihn gehalten.

Ida Kremp 1893 mit ihren Töchtern Helene und Maria (rechts).
Doch Mutter Ida hatte andere Pläne. Ihre hübsche Tochter sollte einmal in die höchsten Kreise einheiraten, in eine Familie, die wirklich reich war, wie die Turcks, die Noells oder die Huecks.
Lüdenscheid war am Ende des 19. Jahrhunderts ein Zentrum der Metallindustrie3 und konnte dabei auf eine ehrwürdige Tradition zurückblicken. Schon seit vielen Jahrhunderten stellten im Umland die Reidemeister auf großen Höfen Eisendraht her. Dieses Eisen, Osemund genannt, war besonders weich und ließ sich leicht schmieden. Die Reidemeister lieferten es in die umliegenden Städte Lüdenscheid, Altena und Iserlohn, wo aus dem Draht die verschiedensten Produkte fabriziert wurden.
Mit dem Aufkommen der industriellen Produktion verloren die Reidemeister und ihr Eisen zunehmend an Bedeutung. Messing, Zinn und andere Buntmetalle gewannen den Markt. Innovative Fabrikherren in den Städten trieben diesen Wandel voran und entwickelten ständig neue Produkte und Verfahren. „Massenproduktion“ wurde zum Schlagwort der Stunde. Und nicht nur ihre Knöpfe, der wichtigste Verkaufsschlager aus dem Sauerland, waren gefragt – auch ihr spezielles Know-How zur Herstellung großer Mengen von Metallwaren exportierten die Kaufleute erfolgreich in alle Welt.
Ein Lüdenscheider Stadtplan aus dem Jahr 1887 listete allein 66 Produktionsbetriebe im engeren Stadtgebiet auf, darunter auch die Fabrik Jul. Kremp.
Die Liebesheirat
Das also war die Welt, in die Maria Kremp hineingeboren war, und Mutter Ida wollte, dass sie sich nach oben orientierte. Der junge Angestellte aus dem Sauerland war tatkräftig und sympathisch, gut und schön, aber das verfing bei Ida nicht. Sie wollte eine Heirat, die die Familie wirtschaftlich voranbrachte, und keine Ehe auf der Basis von romantischer Schwärmerei. Diese Flausen würde sie dem verliebten Töchterchen schon austreiben.
Aber der frühe Tod von Julius machte ihre Planungen hinfällig. Es war immer noch eine Männergesellschaft und zu den wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen, von Spöttern „Heiratsmärkte“ genannt, wurde eine alleinstehende Frau kaum eingeladen. Was sollte sie machen? Nachdem sie sich lange gegen diesen nicht ganz standesgemäßen Schwiegersohn gewehrt hatte, gab sie schließlich doch nach und am 30. Juni 1892 heiratete Maria Kremp ihren Carl.

Maria Schulte, geb. Kremp ca. 1893.
Also eine Hochzeit aus Liebe. Eine Liebe, die bleiben sollte bis ans Ende ihrer Tage. Schon neun Monate nach der Hochzeit wurde Tochter Maria geboren.
1894 starb Ida Kremp. Das Unternehmen ging an Maria und ihren Bruder Heinrich, der noch minderjährig war und dessen Interessen von dem befreundeten Unternehmer Gustav Schauerte vertreten wurden. Marias Schwestern Agnes, Clara und Helene erhielten Anteile am Immobilienbesitz der Firma. Carl bewohnte mit seiner wieder schwangeren jungen Frau nun den größten Teil des Hauses; in seinen Händen lag die Verantwortung. Einige Monate später, im Herbst dieses Jahres wurde der Familie ein Stammhalter geboren, Julius. 1896 folgte Joseph, genannt Josi, 1899 dann Elisabeth, 1902 Agnes, genannt Ati, und schließlich 1904 das Nesthäkchen Helene. Sie mussten zusammenrücken an der Paulinenstraße.

Die Schulte-Kinder. Julius, Ati, Elisabeth, Lene, Maria und Julius ca. 1906.
Carl Schulte lehnte sich zurück, sog erneut an seiner Zigarre und blies einen dicken Ring aus Rauch, der über den Tisch waberte, bevor er sich auflöste. Er lächelte vor sich hin. Ja, seine Kinder, auf die war er ganz besonders stolz: Auf die scheue Maria, den ernsthaften Julius, den fleißigen Josi, die wilde Elisabeth, die anhängliche Ati und natürlich auf Lenemaus mit ihren großen, staunenden Augen.

Maria ca. 1907.
Ihre Kinder sollten eine gute Ausbildung bekommen, auch die Mädchen, darauf legte Mutter Maria großen Wert. Und Carl war wieder einmal sehr beeindruckt von seiner Frau.
Alles lief gut! Unter seiner Führung expandierte Jul. Kremp stetig und hatte sogar die ausländischen Märkte erobert. Mittlerweile lieferte man über 50% der Produktion in die europäischen Nachbarländer, aber auch nach Russland und in die Türkei. Schnell gewachsen waren sie in der Paulinenstraße. 150 Leute arbeiteten da jetzt. „Großunternehmen“ – dieses Wort fiel immer häufiger, wenn in Lüdenscheid von Jul. Kremp gesprochen wurde. In Stadt und Amt gab es fast 1.400 Fabriken, aber nur 25 wurden als Großbetriebe angesehen.
Carl war ganz oben angekommen in Lüdenscheid. Und es würde weiter gehen. Er hatte noch so viele Pläne.
Die Wirtschaftskrise von 1907
Diese lästige Influenza! Seit Herbst 1907 hustete er nun schon herum und jetzt war bereits April. Dazu liefen die Geschäfte mies. Seit Jahren hatte er die Internationalisierung der Firma Jul. Kremp mit großem Erfolg vorangetrieben. Aber dann gab es auf einmal Probleme mit den ausländischen Märkten. Begonnen hatte es schon 1906 in Italien, griff über auf die Türkei, Belgien, Frankreich und weitere Länder. Neue Aufträge kamen kaum noch herein und die Liste der säumigen Kunden wurde länger. In den Vereinigten Staaten war es 1907 zu einem regelrechten Börsencrash gekommen Die Marktkapitalisierung der 70 wichtigsten Unternehmen fiel zwischen Januar und Oktober 1907 von 3,1 auf 1,5 Milliarden Dollar4. Er hatte diese Entwicklungen zwar beunruhig aber nicht wirklich besorgt beobachtet, denn für Jul. Kremp brachte immer noch der deutsche Markt den Löwenanteil des Gewinns.

Carl ca. 1905.
Die Krise traf Deutschland dann im Sommer 1907 mitten in einer Hochkonjunktur. Die Aktien der wichtigsten Industriewerte stürzten um über 50% ab. Die Arbeitslosenzahl stieg von Mitte 1907 bis April 1908 fast auf das Doppelte. Die Käufer traten faktisch in einen Streik, Kredit war nicht mehr zu bekommen. Der Diskontzins, also der Satz, zu dem die Banken sich selbst Geld bei der Reichsbank leihen konnten, stieg auf über 7%.
Es wurde eng. Carl, der gerade noch Leute eingestellt hatte, musste die Preise senken, um im Wettbewerb bestehen zu können. Aber seine Zulieferer, die Walzwerke, hielten ihre Preise hoch und drosselten lieber die Produktion. Da diese gleichen Walzwerke oft auch selbst Endprodukte herstellten, konnten sie niedrigere Preise leichter mitgehen ohne Verlust zu machen. Bei Jul. Kremp aber schrumpfte die Gewinnspanne gefährlich und teilweise musste unter Einstandskosten verkauft werden. Das Unternehmen hatte hohe Lagerbestände aber fast keine Reserven und Carl lag oft nachts wach und sorgte sich, wie alles wohl weitergehen könnte. Die Familie wurde unruhig. Schwager Heinrich Kremp, sein Mitinhaber, hatte die schnelle Expansion schon seit längerem kritisiert. In letzter Zeit waren die beiden häufig regelrecht aneinandergeraten und Carl wirkte verunsichert: Was, wenn Heinrich doch recht hatte? Sogar Clara, Agnes und Helene, die Schwestern seiner Frau stellten Fragen. Sie waren am Immobilienbesitz der Familie in der Paulinenstraße 11 beteiligt und ihre Hypothekenkonten hatten in den letzten Jahren immer ordentlich Zinsen abgeworfen. Aber war das auch in Zukunft noch eine sichere Sache?
Natürlich, Carl hätte einen seiner Unternehmerfreunde in Lüdenscheid ansprechen können wegen eines Kredits. Schließlich war er angesehen und per du mit vielen wichtigen Leuten. Aber er wollte sich nicht dazu durchringen. Einerseits ging es gerade vielen nicht besonders gut, jeder hielt sein Geld zusammen. Und andererseits war das auch mit Risiken verbunden. Er durfte nie vergessen, dass seine Freunde zugleich Konkurrenten waren. Roch jemand, dass Jul. Kremp wackelte, dann würde das seine Position nur weiter schwächen.

Die Wilhelmstraße in Lüdenscheid. Das Zentrum der Stadt fotografiert im Jahr 1905. Quelle: Schumacher W., Grüße aus Lüdenscheid und Umgebung, Band 1, 1987, Lüdenscheid: Sparkasse Lüdenscheid.
Zu seinem Glück hatte er bereits 1906 Kurt Robert Jordan kennengelernt. Aus einer Berliner Industriellenfamilie stammend war der gut betucht und hatte mit der Lüdenscheider Gesellschaft nichts zu tun. Das Jordan’sche Unternehmen belieferte Jul. Kremp schon seit einigen Jahren mit Werkzeugen. Die beiden Männer schätzten sich. Kurt Jordan hatte Carl 100.000 Mark geliehen und irgendwann kam die Idee auf, dass er doch als Partner einsteigen könnte. Heinrich Kremp wollte seine Anteile schon seit einiger Zeit loswerden und würde sie günstig abgeben. Der neue Gesellschafter erklärte sich bereit, 136.000 Mark in die Firma einzulegen. Der Kapitalanteil von Carl betrug dagegen lediglich 28.000 Mark.
Trotzdem sollten beide Partner je 50% der Geschäftsanteile halten. Ein schönes Geschäft!
Dabei war Kurt Jordan kein einfacher Verhandlungspartner gewesen. Die Unterzeichnung des Gesellschaftervertrages beim Notar Pels-Leusden hatte mehrfach verschoben werden müssen. Immer wieder tauchten neue Bedenken auf und mussten mühsam nachverhandelt werden. „Was“, fragte Jordan einmal, „passiert denn, wenn du morgen stirbst? Du bist die Seele des Geschäfts. Ich investiere eigentlich in dich und nicht in irgendwelche Maschinen oder ein altes Fabrikgebäude.“ So war es hin- und hergegangen. Kurt Jordan war ein vorsichtiger Mann. Aber Carl Schulte war Meister darin, immer neue Ideen zu entwickeln, um die Kuh vom Eis zu bekommen. Keine Frage, er war unter Druck und musste es schaffen. Und dann hatte Carl es tatsächlich wieder einmal geschafft. Der Vertrag wurde am 28. Oktober 1907 unterschrieben, das Geld floss und weiterem Wachstum stand nichts mehr im Wege, wenn nur erst die dumme Krise bewältigt war.
Doch die Krise zog sich hin und wurde erst mal nur noch schlimmer. Die Firma war gezwungen ein Hypothekendarlehen bei der Städtischen Sparkasse Lüdenscheid aufzunehmen. Die Gesellschafter mussten frisches Geld nachschießen. Carl fiel das schwer; Kurt Jordans Mutter lieh ihm noch mal 40.000 Mark.
Ab dem Jahr 1910 besserte sich die Lage langsam. Die Umsätze zogen an und die Gewinne auch. Endlich kamen wieder mehr Aufträge aus dem Ausland herein und Carl konnte stolz darauf sein, dass er so entschieden an der Internationalisierung des Geschäftes festgehalten hatte. Der Preis dafür war allerdings ein neuer, mächtiger Mitgesellschafter. Aber Kurt Jordan war umgänglich, ließ Carl weitgehend freie Hand und plante überdies, bald für ein paar Jahre nach Amerika umzuziehen.

Die Fabrik von Jul. Kremp an der Paulinenstraße 11 ca. 1910. Quelle: Kreisarchiv des Märkischen Kreises, Altena.
Die Fabrik an der Paulinenstraße platzte aus allen Nähten und musste demnächst wohl vergrößert werden. Am sinnvollsten wäre es, dafür das alte Wohnhaus abzureißen. Marias Schwestern Agnes und Clara waren längst verheiratet; auch Helena hatte das Haus verlassen und arbeitete als Lehrerin. Wie der Zufall es wollte, kam in diesen Tagen sein bester Freund, der Architekt und Bauunternehmer Hermann Beuge mit einer verlockenden Idee zu ihm. Hermann gehörte ein großes Areal an der Knapper Straße Ecke Lessingstraße. Dort lag sein Bauunternehmen und ein etwas unübersichtliches Ensemble einfacher Häuser, die im Laufe der Jahre entstanden waren. Wohnungen und Zimmer waren vermietet gewesen an Lehrerinnen, Fabrikarbeiter und Handwerker. Hermann hatte in den Anfangsjahren selbst hier gewohnt, bis er sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine schöne Villa in der benachbarten Parkstraße gebaut hatte. An der Lessingstraße hatte er die alten Hucken abgerissen und mehrere schöne Bürgerhäuser errichtet. Ob Carl nicht Interesse hätte an einer großzügigen neuen Stadtvilla in diesem bevorzugten und aufstrebenden Wohngebiet? Und ob er Interesse hatte! Gleichzeitig die Firma zu vergrößern und mit der Familie in eine repräsentative Villa ziehen – das war ganz nach seinem Geschmack. Freund Hermann begann mit dem Bau und hielt Wort: Es entstand ein respektables Gebäude, mit 350 Quadratmetern Wohnfläche groß genug für die Schultes.

Das Haus auf der rechten Seite vor der Baulücke ist die Nummer 4, aufgenommen ca. 1907. Quelle: Schumacher W., Grüße aus Lüdenscheid und Umgebung, Band 2, 1989, Lüdenscheid: Sparkasse Lüdenscheid.
Carl wollte aber möglichst kein Kapital binden, denn die Krise war eben erst ausgestanden und die weitere Expansion der Geschäfte kostete viel Geld. Wie gut also, dass er mit Hermann ausgehandelt hatte, das schöne neue Haus erst einmal zu mieten und erst später dann zu kaufen.
1910 zog die Familie ein. Krise war gestern! Alles entwickelte sich bestens.
Julius
Carl wunderte sich einmal mehr, dass sein großer Junge so gar nicht nach ihm kam, so ernst und still wie er war. Als Vater hatte er es für eine gute Idee gehalten, seinen Ältesten zum einjährig-freiwilligen Dienst beim Militär anzumelden. Julius hatte wie üblich nicht widersprochen. Der Kommiss würde ihm guttun. Immerhin würde er mal eine Fabrik zu leiten haben.

Carl ca. 1916.
Natürlich, die Lage war unsicher (war sie das nicht immer?) und viele sprachen schon von einem großen Krieg, der brutaler werden könnte als alles, was man bisher gesehen hatte. Aber so schlimm würde es schon nicht werden. Und überlege mal: Sein Julius als Offizier!

Julius ca. 1911.
Der einjährig-freiwillige Dienst blieb traditionell eher den besser gestellten jungen Männern vorbehalten. Sie mussten mindestens den Realschulabschluss vorweisen und selbst für ihren Unterhalt aufkommen können. Dafür winkten dem Bewerber aber auch verschiedene Vorteile: Er wurde üblicherweise erst im Alter von 20 Jahren für lediglich ein Jahr eingezogen, konnte sich seine Einheit aussuchen und hatte die Möglichkeit zum Offizier aufzusteigen. Julius erhielt am 14. Januar 1914 seinen Berechtigungsschein.
Zu der Zeit besuchte er noch die Abschlussklasse des Lüdenscheider Real-Gymnasiums, wo er am 03. August 1914 sein Abiturzeugnis erhielt mit einem „gut“ in Mathematik und einem „nicht genügend“ in Französisch. „Ingenieur“ war als Berufswunsch vermerkt worden. Da hatte der Erste Weltkrieg gerade begonnen.
Kriegsbegeisterung erfasste die Bevölkerung. Am Lüdenscheider Bahnhof wurden die Einberufenen mit großem Tamtam verabschiedet. Der Vater ließ sich anstecken von dieser Aufbruchsstimmung und so rückte denn auch Sohnemann Julius im Herbst 1914 aus: Musketier Schulte III, gerade 20 Jahre jung, Gutleutkaserne Frankfurt, 81. Infanterieregiment, 13. Korporalschaft.

Die Grundausbildung lief wie geplant und im September 1915 platzte Carl fast vor Stolz: „Was mich erst recht freut, ist, dass du beim Regiment zum Offiziersaspiranten eingereicht bist. Wenn die Beförderung aus irgendwelchen Gründen augenblicklich auch stockt, so genügt es mir doch vorläufig, zu sehen, dass deine Vorgesetzten mit dir zufrieden sind. Das ist die Hauptsache dabei und wenn das so bleibt, dann kommt die Verwirklichung deiner und meiner Wünsche zur gegebenen Zeit schon von selbst. Es war ja mein Plan, dass du für dein späteres Studium viel Anregung und Kenntnis als Leutnant der Artillerie erwerben solltest“.

Julius als Soldat ca. 1915.
Kaum hatte Julius den Brief des Vaters erhalten, musste er in den Krieg ziehen. Sein 81. Infanterieregiment war Teil des XVIII. Reservekorps der 4. Armee. Im September 1915 nahm er an der Herbst-Offensive in der Champagne teil. Die Schlacht begann am 25. September. Bei dem Dorf Massiges, etwa 60 km nordwestlich von Verdun, kam er mit seiner Einheit in schwere Bedrängnis bei einem Angriff der französischen Armee. Neun Tage später schrieb Generaloberst Karl von Einem, der Befehlshaber der 3. deutschen Armee, die im gleichen Abschnitt kämpfte, in sein Tagebuch: „Wir schätzen die französischen Verluste auf 97.000 Mann. Eine schöne und wohltuende Blutabfuhr“.5
Anfang 1916 muss Julius sich noch einmal in Deutschland aufgehalten haben, möglicherweise auf Heimaturlaub.

Das letzte Foto von Julius, aufgenommen in Frankfurt, möglicherweise Anfang 1916.
Am 21. Februar 1916 gehörte sein Regiment zu den ersten Verbänden, die in die Schlacht von Verdun zogen und fünf Tage später das Fort von Douaumont einnahmen. Seit dem 09. März 1916 galt Julius als vermisst.
Es hagelte Granaten, Tag für Tag ohne Pause. Vor Anbruch der Dämmerung begann es und dauerte bis in die Nacht. Er wusste nicht wie ihm geschah. Er wusste nicht, dass die Heeresleitung eine Vernichtungsschlacht geplant hatte, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Er wusste nicht, dass in diesen Tagen vor Verdun über fünf Millionen Granaten verschossen wurden. Er wusste nicht, dass in diesen wenigen Tagen mehr als 200 Kameraden aus seinem Regiment ihr Leben lassen würden – einer von zehn. Er wusste nicht … er war mitten drin. Geschosse heulten über ihm, vorne hämmerte ein schweres Maschinengewehr. Es schneite schon seit Tagen. Lieber Gott! Mach‘ dass es meinen Unterstand nicht erwischt … mach‘, dass ich nicht verschüttet werde … ersticke … verrecke im gefrorenen Matsch zwischen zerrissenen Bäumen und Leibern. Graue Rauchfetzen … jagen … stumpfer Geruch … verbrannt, Scheiße, Verwesung … böses Jaulen, dröhnendes Pfeifen … kalter Schauer. Mutter!

Deutscher Angriff in der Gegend von Douaumont, Februar – März 1916
Wahrscheinlich fiel Julius in diesen frühen Märztagen, vielleicht durch einen Volltreffer, denn es wurde keine Spur mehr von ihm gefunden. Seine Einheit hatte gerade am 04. nach dem Fort auch den Ort Douaumont erobert und war dann auf Fort Vaux vorgerückt. Dort scheiterte am 09. März ein Sturm auf die Befestigungsanlage.

Lage und Geländegewinne des deutschen Heeres bei Douaumont im Februar – März 1916. Quelle: Gdr – Drawn by Gdr From en wiki, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=463185
Am 10. März gab der Oberkommandierende der französischen Armee folgenden Tagesbefehl aus: „Die Deutschen haben nicht mit Euch gerechnet! Ganz Frankreich schaut auf Euch. Ihr gehört zu denen, über die man sagen wird: Sie versperrten den Weg nach Verdun“.
Krankheit ohne Namen
1916 war ein schlechtes Jahr. Julius war gefallen, die Geschäfte liefen nicht gut, Carl hatte sogar einen Teil der Produktion umstellen müssen und fertigte nun Abzüge für Handgranaten für das deutsche Heer. Die Geldentwertung erreichte ungekannte Höhen und die Preislisten wurden nicht mehr gedruckt sondern im Büro handschriftlich ausgefüllt. Verglich er seine Bilanzen von 1909 und 1915, dann sah das zwar alles beeindruckend aus, Umsatz und Gewinn hatten sich fast verzehnfacht. Doch das stand nur auf dem Papier, denn die Teuerung fraß unaufhörlich an diesem Fortschritt. Aber man wollte ja nicht klagen!
Mehr Sorgen bereitete ihm sein ständiger Husten. Sicher, er hatte immer mit Erkältungen zu tun gehabt, aber jetzt ging der Husten gar nicht mehr weg. Er war kurzatmiger geworden und die Jagd strengte ihn immer mehr an. Wie stolz war er gewesen, als er 1911 mit ein paar guten Lüdenscheider Freunden ein Jagdrevier bei Altenbüren pachten konnten. Bei Altenbüren! Einen Katzensprung entfernt von Rixen, seinem Geburtsort.

Die Altenbürener Jagdgesellschaft ca. 1915.
Da staunten sie nicht schlecht, die Bauern im Sauerland, wenn der Tross aus der Stadt anrückte. Drei, manchmal sogar fünf Kraftwagen fuhren dann vor. Die Herren wohnten im Jagdhaus und in der Pension „Waldhaus Hubertus“. Mit Hilfe der Bauern organisierte man regelmäßig Treibjagden und im Herbst 1917 wurden endlich Carls Jägerträume wahr: Er selbst war es, der das Glück hatte den Brunfthirsch „Gustav“ zu erlegen. Einen stolzen Achtender.

Carl mit „Gustav“, Herbst 1917
Aber der Spaß an der Jagd verging ihm zusehends. Er kam schnell außer Atem und war oft völlig durchgeschwitzt. Die Kameraden spotteten schon, dass die gute häusliche Küche in Verbindung mit seiner Bürotätigkeit dem Jägerehrgeiz wohl gar nicht gut bekomme.
Die Kinder machten den Eltern nach wie vor viel Freude. Na ja, fast. Josi studierte seit vorletztem Jahr Medizin in Münster, Mariechen war letztes Jahr, im Todesjahr von Julius, in den Orden der Schwestern der christlichen Liebe eingetreten. Sie hatte den Ordensnamen Medarda angenommen, nach dem Schutzpatron der Stadt, dem heiligen Medardus, dem in Lüdenscheid die St. Josef und Medardus Kirche geweiht war. In dieser Kirche war Mariechen getauft worden, hier hatte sie die erste heilige Kommunion empfangen. Tochter Ati besuchte das Internat der Englischen Fräulein in Wiesbaden und Lene bereitete sich auf das Einjährige vor. Nur Elisabeth, die wilde Elisabeth machte ihm Sorgen. Seine zweite Tochter war so klug, so schnell im Kopf, so sprachbegabt, so gut am Klavier. Aber sie war auch so emotional, widerspenstig und dickköpfig. Er hatte sie auf die private Höhere Töchterschule der Ursulinen nach Koblenz gegeben. Aber die strenge Schule der Nonnen war nichts für ihren unruhigen Geist. Gerade hatte sie sich unsterblich in einen jungen Kapitän der Handelsmarine verliebt und wollte die Ausbildung abbrechen.

Carl im August 1918.
Wenn nur der blöde Husten nicht wäre. Nicht mal seine Zigarren und die Meerschaumpfeife machten ihm mehr Spaß. Als er dann etwas Blut spuckte ging er endlich zum Arzt, der ihn ins Städtische Krankenhaus überwies. Es war das Jahr 1918. Man dachte zuerst an Tuberkulose, untersuchte ihn, fand aber nichts. Hm, vielleicht doch nur ein Bronchialkatarrh? Als sich auch nach einer Kur in Bad Soden der Husten, die Atemnot und das Blutspucken aber gar nicht bessern wollten, schlugen seine Ärzte ihm vor, sich doch in den Allgemeinen Städtischen Krankenanstalten in Düsseldorf vorzustellen. Der dortige Professor Oertel war in solch komplizierten Fällen eine Koryphäe.
Am 29. Januar kam er in Düsseldorf an. Professor Oertel prüfte erneut auf Tuberkulose, Carl wurde sogar geröntgt, aber es fand sich nichts. Möglicherweise eine schlechte Belüftung der Lunge, weil Carls Nasenatmung insuffizient war? Der Professor attestierte am 07. Februar 1919 eine schwere Erkrankung der oberen Luftwege.6
Aus dem Düsseldorfer Parkhotel schrieb er zwei Tage später an Maria: „Morgen soll ich in der Nase operiert werden, weil die linke Nasenhöhle durch Knorpelanwachsung verstopft ist und keine Luft durchlässt wodurch Wucherungen und Vereiterungen der Schleimhaut entstanden sind, die bis zum Kehlkopf herunterreichen. Weil keine Luft durch die linke Nasenhöhle eintritt, ist auch das linke Ohr in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem soll die rechte Gestaltung der Atemwege auch vorteilhaft auf die Gesundung der Bronchien einwirken. Das Röntgenbild ergibt, dass keine Tuberkelherde vorhanden sind und dass die ganze Krankheit ein Bronchialkatarrh ist.“
Die Operation war grausam: „Gestern ist die Operation gemacht worden. Sie dauerte 4 ½ Stunden. Eine ganze Menge Knochen- und Knorpelstücke hat mir der Professor aus der Nase gemeißelt. Die ganze Nase war durch Cocain gefühllos gemacht, aber trotzdem war es eine unangenehme Sache. Das Hämmern habe ich noch die ganze Nacht im Gehirn gespürt, so sehr waren alle Nerven in Aufregung geraten. Ich habe auch ziemlich Blut verloren.“
Er musste sich erholen und war voller Hoffnung: „Es ist bisher nichts in Erscheinung getreten, was beunruhigen könnte. Der Herr Professor versichert mir fast täglich, dass ihn der Zustand und die Entwicklung der Heilung sehr befriedigen.“
Aber es wurde nicht besser, Carl klagte weiter über Atembeschwerden und Husten. Er hatte in den letzten Monaten stark abgenommen, war deutlich gealtert und oft sehr müde. Die schmerzhaften Hustenanfälle zermürbten ihn. Am Ende konnte auch der Professor nichts mehr für ihn tun, er wurde nach Hause entlassen.
In der Nacht auf den 02. Mai 1919 starb Carl Schulte im Alter von 54 Jahren.
Wie meine Familie ein Vermögen verlor:
Teil 1: Die Firma
Teil 2: Das Erbe
Teil 3: Hyperinflation
1 Die Herkomer Konkurrenz war eine Autorallye für Tourenwagen, die der Malerfürst und Autonarr Sir Hubert von Herkomer 1905 zum ersten Mal ausrichtete. 159 Teilnehmer bestritten die Rallye 1906, die in sechs Etappen über 1.700 km von Frankfurt über München, Linz nach Wien und zurück über Klagenfurt und Innsbruck wieder nach München führte. Prinz Heinrich von Preussen nahm an der Rallye mit Startnummer 75 teil.
2 Assmann R., Wie man in Lüdenscheid Millionär wurde – oder auch nicht, in: Der Reidemeister (198), S. 1722, 2014, Lüdenscheid: Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid e.V.
3 Zu diesem Thema siehe: Hostert W., Die Entwicklung der Lüdenscheider Industrie vornehmlich im 19. Jahrhundert, Dissertation, 1960, Münster: Westfälische Wilhelms-Universität.
4 Die Informationen zur wirtschaftlichen Entwicklung nach: Feiler A., Die Konjunktur-Periode 1907 – 1913 in Deutschland, 1914, Jena: Gustav Fischer
5 Zu Julius‘ kurzer Militärzeit und den Zitaten der Anführer siehe: http://www.infanterie-regiment-81.de/; https://de.wikipedia.org/wiki/Herbstschlacht_in_der_Champagne#Schlachtverlauf; https://www.gutenberg.org/files/48185/48185-h/48185-h.htm; https://de.wikipedia.org/wiki/Fester_Platz_Verdun#1916,_der_belagerte_Platz
6 Bis 1912 waren weltweit erst 374 Fälle von Lungenkarzinom beschrieben worden. Im gleichen Jahr wurde zwar in Amerika der erste chirurgische Eingriff bei diesem Krankheitsbild vorgenommen, was aber bis Ende der 20er Jahre weitgehend unbeachtet blieb. Siehe dazu: Dienemann H., Drings P., Wannenmacher M., Bischof M. (2003) Geschichte der Behandlung der Lungenkarzinome. In: Drings P., Dienemann H., Wannenmacher M. (eds) Management des Lungenkarzinoms. Onkologie Aktuell. Springer, Berlin, Heidelberg.
Laut Deutscher Krebsgesellschaft zeigt das Bronchialkarzinom folgende Symptome:
– hartnäckiger akuter Husten, der trotz adäquater Behandlung mit zum Beispiel Antibiotika mehr als zwei bis drei Wochen anhält
– chronischer Husten, der seinen Charakter verändert
– blutiger und unblutiger Auswurf
– pfeifende Atmung, Atemnot
– Fieberschübe und Nachtschweiß
– Abgeschlagenheit
– ungewollter Gewichtsverlust
– Heiserkeit
– Schmerzen im Brustbereich, Knochenschmerzen
– Schluckbeschwerden
2 Gedanken zu “Die Firma – arm durch Inflation und Steuern”