Es war viel zu warm für diese Jahreszeit im Januar 1921. Maria Schulte saß an ihrem Schreibtisch, ihr Blick ging durch das Fenster und folgte den grau-schwarzen Wolkenfetzen, die vorüberzogen. Es regnete und die Bäume strecken ihre kahlen Äste bettelnd vor Hunger nach Sonne in den düsteren Himmel.

Maria 1920
Sie schaute sich um. Die Wohnung erschien ihr dunkel und eng. Die schweren Eichenmöbel gehörten nicht wirklich hier her, sie brauchten großzügigere Räume, um ihre Eleganz entfalten zu können. Solche Räume hatte es in Lüdenscheid gegeben, in ihrem Haus in der Lessingstraße. Aber nach dem Tod des Mannes hatte sie das prächtige Leben als Gemahlin des Fabrikanten Carl Schulte aufgeben müssen. Sie war nach Menden im Sauerland gezogen, in die Stadt aus der der frisch angetraute Ehemann ihrer Tochter Elisabeth stammte.
Sicher, die neue Wohnung, in der sie sich nun seit gut einem halben Jahr eingerichtet hatte, war ordentlich und eigentlich auch groß genug für sie und ihre zwei Mädchen. Aber sie hatte viel zu viel mitgenommen, weil sie sich einfach nicht trennen konnte von all den lieben Erinnerungen. Jetzt standen die Möbel hier unglücklich herum, drängten sich aneinander und schrien nach mehr Platz.
Welchen Sinn hatte das alles? Ihr Sohn, gefallen in Verdun, blutjung mit 22 Jahren. Der viel zu frühe, schreckliche Tod ihres Mannes mit nur 54 Jahren. Der Verlust des Metallunternehmens Julius Kremp, ihres väterlichen Erbes. Der Verlust von Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung. Und jetzt das!
Es war der 22. Januar 1921 und vor ihr lag das Schreiben des Finanzamtes Iserlohn, das ihre Vermögensabgabe vom Gewinnzuwachs auf 237.851,60 Deutsche Mark festsetzte. Maria fröstelte als die Furcht sie wieder überfiel. Nun würde sie alles verlieren, was ihr noch geblieben war. Sie konnte damals nicht erkennen, wie hoch ihr Verlust schon war, als der Postbote ihr den fatalen Brief übergab.
Der Wert des Geldes
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg befand sich das Deutsche Reich in höchster Not. Der Krieg war teuer gewesen und zusätzlich hatten die von den Siegern betriebenen Strategien von Deindustrialisierung und Handelsbeschränkungen im Jahr 1919 zu einer Neuverschuldung von 20% vom Bruttosozialprodukt geführt, die danach langsam absank1. Nach einigem Hin und Her wurden im Jahr 1920 Reparationen in Höhe von zunächst 269 Milliarden Goldmark gefordert2. Die Staatsschulden bewegten sich zu der Zeit (ohne Reparationen) bereits bei fast 150% des Bruttosozialproduktes, wurden aber zu etwa 90% von inländischen Gläubigern gehalten. Das Londoner Ultimatum vom Mai 1921 setzte die Reparationen auf 132 Milliarden Goldmark fest. Die Verschuldung stieg dadurch schlagartig auf 350% des Bruttosozialproduktes – und etwa 90% der Verschuldung notierte nun in ausländischer Währung.
Deutschland musste von seinen Schulden runter, egal wie. Die in Dollar notierten Schulden (hauptsächlich ausländische Gläubiger und Reparationsforderungen) konnte der Staat nur mühsam tilgen, indem er mit Dollar, Gold oder realen Werten wie z.B. Rohstoffen bezahlte. Aber die in Deutscher Mark notierten Schulden (hauptsächlich Kriegsanleihen, die von deutschen Bürgern gehalten wurden) konnte er schneller und billiger loswerden.
Zunächst wurden dafür neue Steuern auf Einkommen und Vermögen erhoben: Kriegsabgaben und Reichsnotopfer.
Nachdem Maria alles bis auf die Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs beglichen hatte, war ihr Vermögen von 470.000 auf etwa 370.000 Deutsche Mark geschrumpft. Die Staatsverschuldung in Mark sank im gleichen Zeitraum von fast 60 Milliarden Mark im Januar 1919 auf etwa 15 Milliarden Mark im Januar 1920.
Doch das alles brachte nicht genug, denn die Verschuldung in Dollar stieg immer weiter. Die gebeutelten Bürger würden noch viel mehr von ihrem Einkommen und ihrem Vermögen abliefern müssen. Das erreichte der Staat dadurch, dass er sich massiv in der eigenen Währung verschuldete. Er gab Anleihen aus, die die Reichsbank mit frisch gedrucktem Geld ankaufte. Das hieß auch: Grünes Licht für Inflation. Nachdem die Teuerung sich nach Kriegsende zunächst von in der Spitze 60% pro Jahr auf 10% reduziert hatte, war sie wieder angestiegen bis auf etwa 200% pro Jahr im Frühjahr 1920.
Wohlhabende Bürger mit viel Erfahrung in finanziellen Dingen hatten diese Entwicklung kommen sehen und schon vor Kriegsende damit begonnen, ihre Vermögen ins Ausland zu transferieren. Aber Maria hatte von solchen Dingen nichts gewusst und ihre Berater auch nicht.
Der Hauptteil ihres Erbes bestand in ihrer Beteiligung an der Firma Julius Kremp. Der Compagnon ihres Mannes, Kurt Jordan, hatte dafür bar in mehreren Teilbeträgen 344.400 Mark ausgezahlt.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese Auszahlungen wert waren, musst du die Kaufkraft des Geldes ansehen, also das, was du zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Betrag kaufen konntest3.
Datum | Betrag | Kaufkraft in € |
03.11.1919 | 10.000,00 | 4.540,00 |
02.02.1920 | 100.000,00 | 18.280,00 |
20.02.1920 | 100.000,00 | 18.280,00 |
08.05.1920 | 100.000,00 | 20.420,00 |
05.08.1920 | 34.400,00 | 7.310,00 |
Gesamt | 344.400,00 | 68.830,00 |
Abfindungszahlungen von Kurt Jordan unter Berücksichtigung der Geldentwertung.
Maria hatte allein durch den Kampf um eine faire Abfindung über 80% der Kaufkraft des Betrages verloren, den sie am Ende erhielt. Von heute aus betrachtet wäre es klüger gewesen, sie hätte die vertraglich festgelegte Abfindung von 211.000 Mark sofort genommen und einen möglichst großen Teil davon in Aktien investiert, diese hätten zwar in den Folgejahren stark geschwankt, auf 10 Jahre gesehen wäre sie aber deutlich im Plus gewesen4.
Doch von Aktien hatte sie keine Ahnung. Sie entstammte einer Tradition mittelständischer Unternehmer, die mit fast ihrem gesamten Vermögen in ihren Firmen investiert waren.
Auch der Kauf eines Etagenwohnhauses zur Vermietung wäre vielleicht eine gute Idee gewesen. Ab 1920 wurde stark in den Wohnungsbau investiert5. Der Baukostenindex lag zwar mit 48,4 (2005 = 100) recht hoch für die Zeit. Aber da die Kaufkraft der Mark 1920 bei 90% der Kaufkraft des Euro von 2005 lag, sind die Immobilienpreise damals wohl immer noch relativ günstig gewesen. Den Kaufpreis hätte sie möglichst hoch über ein Hypothekendarlehen finanzieren sollen, denn Schuldner gewinnen in der Inflation, weil sie ja stets nur den nominellen Kreditbetrag zurückzahlen müssen, unabhängig von dessen Kaufkraft. Und die Mieten (also die Einnahmen des Vermieters) steigen tendenziell mit der Geldentwertung, trotz Mietpreisbremse, die es damals auch schon gab.
Aber mit Immobiliengeschäften hatte sie sich ebenso wenig ausgekannt. Das schöne Haus in der Lessingstraße war nicht ihr Eigentum gewesen, sondern nur gemietet.
Eine andere Alternative wäre Gold gewesen, denn der Goldpreis steigt gewöhnlich mit der Inflation. Etwas später, im Mai 1923 sollte zwar ein Gesetz erlassen werden, das es dem Staat erlaubte, privaten Goldbesitz zu beschlagnahmen, und im August des gleichen Jahres würden die Bürger dann sogar verpflichtet werden, ihren gesamten Goldbesitz binnen drei Wochen abzuliefern, soweit dieser 10 Reichsmark überstieg. Aber im Chaos der Hyperinflation hatte der Staat kaum die Glaubwürdigkeit und die Mittel, diese Maßnahmen durchzusetzen. Fast niemand hielt sich daran und 1924 wurden die Restriktionen wieder aufgehoben.
Doch Gold brachte keine Zinsen und was Maria brauchte, waren Einnahmen.
So wie sie es damals verstand, war sie Rentnerin und musste von den Zinsen ihres Kapitals leben, das aber natürlich möglichst sicher angelegt sein sollte.
Ein schlechtes Geschäft
Sichere Geldanlagen in Sparbriefen oder Anleihen brachten Anfang der zwanziger Jahre zwischen 3% und 5% Zinsen. Das wurde ratzfatz von der Inflation weggefressen und das hatte natürlich auch Maria gemerkt. Was konnte sie tun? Über alte Kontakte war sie an die Firma Rudolf Förster aus Berlin-Charlottendorf geraten, die im Osten in großem Stil Wälder aufkaufte und Telegrafenmasten und Bahnschwellen produzierte. Diese Firma hatte ihr 11% Zinsen geboten, mehr als das Doppelte von dem, was damals üblich gewesen war.
Hm, Hm, denkst du dir jetzt, wenn das mal gut gegangen ist. So dachte ich auch, als ich zum ersten Mal davon las und auch Maria wird sich Sorgen gemacht haben. Aber … andererseits … 11% … Hm, Hm.
Um sicher zu gehen hatte sie eine Auskunft über die Firma bei der Deutschen Bank eingeholt. Rudolf Förster war gut beleumundet und zahlte pünktlich alle Rechnungen.
Maria hat sich getraut.
Bis Ende 1920 hat sie dem Unternehmen Darlehen in Höhe von zusammen 225.000 Mark gegeben. Und allen Bedenken zum Trotz zahlten die Berliner pünktlich ihre Zinsen. Zwei Jahre später sollte meine Urgroßmutter dann bemerken, dass dieses Geschäft kein gutes war. Sie kündigte die Darlehen und, man glaubte es kaum, erhielt alles pünktlich und genau zurück.
Aber warum war das dann so ein schlechtes Geschäft?
Datum | Auszahlung | Kaufkraft in € | Rückzahlung | Kaufkraft in € |
13.05.20 | -150.000,00 | 30.636,60 | ||
30.06.20 | 2.154,00 | 408,05 | ||
05.11.20 | -75.000,00 | 15.308,15 | ||
31.12.20 | 9.510,00 | 2.034,08 | ||
30.06.21 | 11.137,50 | 2.511,24 | ||
31.12.21 | 11.137,50 | 983,75 | ||
17.06.22 | 10.000,00 | 438,12 | ||
30.06.22 | 11.088,00 | 485,79 | ||
30.10.22 | 100.000,00 | 544,17 | ||
05.01.23 | 123.992,50 | 137,22 | ||
Gesamt | -225.000,00 | 49.944,75 | 279.019,50 | 7.542,42 |
Ertrag nominell | 50.019,95 | |||
Verlust in Kaufkraft | -42.402,33 | |||
Rendite % | 22,2% | -85,9% |
Das Darlehen an die Firma Rud. Förster, Berlin, jeweils nominell und in Kaufkraft von 2019.
Für den eiligen Leser hier die kurze Zusammenfassung der Tabelle: Maria erzielte mit dem Darlehen an Rudolf Förster nominell zwar eine Rendite von 22,2% auf zweieinhalb Jahre – wesentlich mehr als die 5% pro Jahr, die etwa die Amtssparkasse Lüdenscheid anbieten konnte. Berücksichtigst du aber den Kaufkraftverlust durch Inflation, dann verlor die unglückliche Witwe bei diesem Geschäft fast 86% ihres Vermögenswertes (49.944,75 Euro gab sie, 7.542,42 Euro erhielt sie zurück) – trotz Zinsen von 11%.
Die Steuergeschichte
1921 aber hat sie das Inflationsrisiko nicht durchschaut; ihr schien, dass es die Steuerforderung über 237.851,60 Mark war, die ihren wirtschaftlichen Ruin bedeuten würde. Sie hatte an das Finanzamt geschrieben. In ihrer Begründung des Einspruchs gegen den Steuerbescheid hatte sie argumentierte, dass das geerbte Vermögen nicht ihr allein, sondern auch ihren Kindern gehöre. Dem hatte sich das Finanzamt nach einigem hin und her nicht verschließen können. Neue Berechnungen waren gemacht worden, zusätzliche Freibeträge zum Tragen gekommen, niedrigere Steuertarife hatten gegriffen.

Maria 1920
Der Steuerbescheid war reduziert worden auf insgesamt 113.951,80 Mark. Das war immer noch ruinös und es fiel auch auf, dass das Finanzamt es versäumt hatte, bisher schon geleistete Zahlungen für andere Kriegsabgaben in Abzug zu bringen. Ein neuer Briefwechsel war die Folge. Aber die Behörde zeigte sich hartleibig und wollte nicht mehr reduzieren. Maria musste den Bücherrevisor von Lockstaedt beauftragen für einen erneuten Einspruch. Am Ende rückte sie dem Finanzamt persönlich zu Leibe und ging nicht eher wieder nach Hause, bis sich der zuständige Beamte – zwar unwillig aber immerhin – bereit erklärte, den Bescheid gemäß der Vorschriften erneut zu reduzieren. Nun blieben noch 42.951,80 Mark an Steuerschuld übrig.
Mittlerweile war es Februar 1922 und Marias Vermögen hatte sich weiter verringert. Die unaufhörlich steigenden Kosten für dies und das hatten es auf nunmehr 275.000 Mark schrumpfen lassen. Davon lagen immer noch 225.000 fest bei Rudolf Förster in Berlin-Charlottenburg mit einjähriger Kündigungsfrist. Kurzfristig verfügen konnte sie nur über 50.000 Mark. Die wären so gut wie weg, wenn sie die Steuer zahlte. Was konnte sie tun?
In ihrer Not schrieb sie an den Deutschen Rentnerbund, dessen Mitglied sie war, und schilderte ihre Lage. Ein freundlicher Herr Unverzagt antwortete knapp aber präzise. Er schlug vor, über das Finanzamt einen Antrag an das Reichsfinanzministerium zu stellen auf Erlass oder langfristige Stundung der Steuer. Sein Schreiben vom 27. Februar 1922 endete optimistisch: „Sehr wahrscheinlich wird Ihnen ein erheblicher Teil der Steuer erlassen“. Herrn Unverzagts gutem Rat folgte die bedrängte Frau.
Doch dieser neue Antrag hielt das Finanzamt Iserlohn keineswegs davon ab, die festgesetzten 42.951,80 Mark beizutreiben. Maria musste einen unangenehmen Schritt gehen und Julius Turck anbetteln, den Multimillionär und alten Freund ihres Mannes aus goldenen Lüdenscheider Tagen. Er bürgte freundlicherweise für die Schuld und das Finanzamt musste vorerst Ruhe geben.
Mittlerweile hatte man sich im Berliner Reichsfinanzministerium eine Meinung zu dem Fall gebildet und am 14. Juni 1922 schrieb der Herr Oberregierungsrat Kennerknecht: „… dass Ihnen der auf Sie entfallende restliche Teil der Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs in Höhe von Mk 21.476 bis auf 20 Jahre, längstens jedoch bis zu Ihrem Tode zinslos gestundet wird.“ Die Steuerschulden der noch in Ausbildung befindlichen Kinder Joseph, Agnes und Helene wurden bis 1927 gestundet, während die auf Maria Medarda und Elisabeth entfallende Steuer von zusammen 8.590,80 Mark sofort zu entrichten war. Diese Entscheidung war ein großes Entgegenkommen, im Fall der älteren Tochter aber etwas unsinnig, da diese als Schwester im Kloster lebte und keine Aussicht auf ein persönliches Einkommen hatte.
Maria versuchte alles, auch diese restlichen 8.590,80 gestundet zu bekommen, aber die Behörden konnten nichts mehr für sie tun. Mit Schreiben vom 07. September 1922 teilte das Reichfinanzministerium mit, dass der Betrag sofort zu zahlen sei. Der Bescheid sei endgültig.
Doch das spielte da schon keine Rolle mehr.
Die Gasrechnung
Zum 30. Oktober 1922 kündigte Maria einen Teil ihres Darlehens an die Firma Rudolf Förster und erhielt pünktlich 100.000 Mark zurück. Leider betrug die Kaufkraft nur noch 544,17 Euro (2019). Etwas später, am 05. Januar 1923 floss dann das Restdarlehen von 123.992,50 zurück (Kaufkraft € 137,22). Die Witwe war in den Zeiten der Hyperinflation angekommen. Das Geld hatte seinen Wert fast vollständig verloren. Die Kaufkraft von Marias verbliebenem Vermögen von 217.500 Mark lag gerade mal bei 240 Euro.
Es war alles egal.
Das Ende von Maria Schultes Vermögen kam dann schnell und sehr banal in Form einer Gasrechnung.
Datum | Betrag | Kaufkraft in € |
02.02.23 | 379 | 0,21 |
09.03.23 | 1.080 | 0,68 |
27.08.23 | 61.920 | 0,20 |
11.09.23 | 9.300.000 | 1,20 |
05.10.23 | 230.000.000.000 | 99,77 |
Marias Gasrechnungen im Jahr 1923
Die Rechnung vom 27. August 1923 konnte sie noch aus ihrem Vermögen zahlen, das danach auf 77.800 Mark geschrumpft war. Die Kaufkraft dieses Vermögens lag bei € 0,25.
Mit der Gasrechnung vom 11. September geriet ihr Konto bei der Städtischen Sparkasse Menden erstmals ins Minus und zwar gleich mit 9,2 Millionen Mark. Dann ging es wild hin und her. Die Zahlen bedeuteten nichts mehr. Wie hat sie die Rechnung vom 11. September oder vom 05. Oktober bezahlt? Keine Ahnung, vielleicht hat ihr jemand das Geld geliehen, vielleicht hat sie ein Schmuckstück verkauft oder die Sparkasse hat die Überziehung einfach geduldet. Schließlich ging es nur um Geld ohne Wert.

Maria ca. 1930
Ab dem 15. November 1923 begann die Reichsbank Rentenmark als neues Zahlungsmittel auszugeben und leitete damit eine Währungsreform ein.
Als sich die Mendener Bürger am Morgen des 02. Januar 1924, einem Mittwoch, den Schlaf aus den Augen gerieben hatten und ihre Kontoauszüge betrachteten, stellten sie fest, dass alle Beträge auf die neue Währung umgestellt waren. Das galt auch für das Konto Nr. 251, Maria Schultes Konto. Der Saldo erschien ganz unten auf dem Auszug: 0,01 Rentenmark.
Und das war sie dann, die Geschichte, wie meine Familie ein Vermögen verlor.
Das Leben danach
Das Leben geht weiter, egal wie groß die Katastrophen sind. Ab Februar 1927, als alles wieder etwas besser ging, erhielt Maria einen Rentenbescheid über 287,50 Reichsmark (schon wieder eine neue Währung). Das entsprach etwa 1.000 Euro. Dem Staat war sehr wohl bewusst, dass hauptsächlich die Rentner und Kapitalbesitzer die Kosten des verlorenen Krieges zu tragen gehabt hatte.

Marias Rentenbescheid vom 21.01.1926
Maria zog mehrmals um, die Wohnungen wurden immer kleiner. Ihre Tochter Elisabeth, die den Bauunternehmer geheiratet hatte, konnte ihr nicht lange helfen, denn dieses Unternehmen ging Anfang der 30er Jahre in der Wirtschaftskrise unter.

Maria 1942
Sie erlebte den Tod ihrer kleinen Enkelin Annemarie, die 1937 an einem durchbrochenen Blinddarm starb. Sie erlebte 1941 den Tod ihres Schwiegersohns, der ihre Tochter Elisabeth mit den Kindern in bitterer Armut zurückließ. Sie erlebte den Zweiten Weltkrieg, in dem ihre beiden Enkel Joachim und Klaus noch Ende 1944 in Russland fielen.
Sie war alt geworden und erschöpft. Am 10. November 1949 starb sie. Sie war 79 Jahre alt.
Mach‘s gut, Maria! Ich bewundere deine Kraft und die Liebe zu deiner Familie. Sehr, sehr viele Stunden habe ich mich nun mit deinem Leben beschäftigt6. Und ich habe viel von dir gelernt!
Wie meine Familie ein Vermögen verlor:
Teil 1: Die Firma
Teil 2: Das Erbe
Teil 3: Hyperinflation
1 Alle Zahlen zur Verschuldung nach: Dalio R., German Debt Crisis and Hyperinflation (1918 – 1924), in: ders., Big Debt Crises. Part Two: Detailed Case Studies, S. 7 – 43, Westport: Bridgewater, 2018.
2 Alle Zahlen zu Reparationsforderungen aus: Feldman G.D., The Great Disorder, S. 303 – 43, 1996, New York: Oxford University Press.
3 Deutschen Bundesbank: Tabelle „Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen“ mit Stand 2020. Diese Tabelle verwende ich zur Berechnung der Kaufkraft mit Ausnahme der Jahre 1919 – 23, da sie für die Phase der Hyperinflation zu grobkörnig ist. Für die Jahre 1919 – 23 verwende ich die Tabelle von Holtfrerich C.L., Die deutsche Inflation 1914 bis 1923, S. 15, Berlin: de Gruyter, 1980. Ich indexiere die Großhandelspreise für Juni 1919 (= 3,08 Mark) dieser monatlich aktualisierten Tabelle auf den Wert der Bundesbanktabelle für 1919 und berechne dann die Kaufkraft des jeweiligen Monats in Euro von 2020.
4 Gielen G., Können Aktien noch steigen? S. 9 – 31, 1994, Wiesbaden: Gabler.
5 Rahlf T., Deutschand in Daten. Zeitreihen zur historischen Statistik, S. 266ff, 2015, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
6 Dank gilt meiner Schwägerin Magdalene Elisabeth und meinem Schwager Klaus Maria, die es mit großem Gleichmut ertragen haben, dass ich ein so schlechter Gastgeber war, und natürlich meiner Frau Maria, die mich mit ihrem geduldigen Wohlwollen immer unterstützt hat.
2 Gedanken zu “Hyperinflation – arm durch Inflation und Steuern”