Im Südosten Mallorcas erhebt sich nördlich von Lluc Major bei Randa ein einzelner hoher Berg, der merkwürdigerweise oben nicht spitz sondern flach geformt ist. Dieser Berg ist in der mallorkinischen Geschichte ein magischer Ort. Schon bald nach der Befreiung von den Mauren siedelten sich dort ab Anfang des 13. Jahrhunderts christliche Einsiedler an. Im Jahr 1273 zog Ramon Llull der berühmteste mallorkinische Philosoph hierher, um als Eremit zu leben. In seiner kleinen Grotte hatte er die Vision, die ihn zur Niederschrift seines Hauptwerkes „Ars Magna“ inspirierte.


In der Nachfolge von Llull ließen sich im 15. Jahrhundert Gelehrte und Schüler seiner Lehre dort nieder und gründeten ein Kloster. Ab dem 16. Jahrhundert gab es auf dem Tafelberg eine Grammatikschule, in der bis zu 150 Adepten in Grammatik, Rhetorik, Latein und Griechisch unterrichtet wurden. Die Schule ist heute ein Ramon-Llull-Museum. Später verfiel das Kloster. Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich Franziskaner dort an, renovierten und erweiterten die Anlage. Jetzt ist das Santuari de Cura ein beliebter Aussichtspunkt, von dem aus man einen großen Teil der Insel übersehen kann. Leider sind Ruhe, Frieden und Besinnlichkeit – also das, was eigentlich die Klosteratmosphäre ausmacht – nur noch zu erahnen. Das liegt zum einen an zu vielen Touristen und zwei Restaurants, zum anderen an der riesigen Radaranlage, die man direkt neben dem Kloster gebaut hat. Schön sieht anders aus.


In diesem Text soll es aber nicht um das Kloster gehen, sondern um eine kleine Felsspalte, in der Llull als Eremit lebte. Diese liegt etwas unterhalb des Klosters und ist nicht ausgeschildert. Fragt man in den Klosterrestaurants danach, ist die Antwort meist ein Achselzucken. Andererseits kommen einheimische Verehrer wohl regelmäßig an diesen Ort, denn man findet ihn immer geschmückt mit ein paar Blumen. Irgendwann einmal wurde eine Staue zu Ehren Llulls hier errichtet, die auf einem kleinen Sockel steht und mittlerweile schwer beschädigt ist. Mit Ramon Llull und den Mallorkinern ist es etwas ganz besonderes, denn die Insulaner sind unglaublich stolz auf ihren Philosophen, der vom Papst seelig gesprochen wurde. Viele Orte auf Mallorca schmücken sich mit irgendeinem Bezug zu Llull und gefühlt gibt es kaum eine kleine Höhle oder Felsspalte, in der er nicht zeitweise sein Eremitendasein gefristet haben soll.


Gegenüber einer solchen Verehrung bin ich eigentlich skeptisch. Aber dann hat mich ein Erlebnis sehr nachdenklich gemacht. Etwa im Jahr 2012 habe ich die Felsspalte zum ersten mal zusammen mit meiner Familie gefunden. Ich versuchte auf den Sockel zu klettern um ein Selfie mit mir und dem Philosophen (bzw. dem, was von ihm übrig war) zu machen. Dabei rutschte ich ab und fiel rückwärts vom Sockel. Ich hätte tot sein können, denn fast überall ist der Boden aus hartem Fels. Es gibt eigentlich nur eine Lücke mit weichem Untergrund und in die fiel ich so glücklich, dass ich nicht den kleinsten Kratzer davontrug.
War das Zufall, oder hat mich die Magie des Ortes beschützt?
