Wenn du die Augen aufmachst – und vorausgesetzt du bist nicht blind und das Licht ist nicht aus – dann siehst du was. Sehr einfach, oder?
Wie die meisten Menschen glaubst du vermutlich auch, dass es die Dinge, die du siehst, auch dann noch gibt, wenn du sie nicht siehst. Normalerweise bist du dir auch sicher, dass du die Dinge so siehst, wie sie wirklich sind.
Deine Überzeugungen über das Sehen hältst du für gewiss. Aber wenn du darüber nachdenkst, dann stösst du schnell auf Probleme:
- Woher weisst du eigentlich, dass es die Dinge, die du siehst, unabhängig von dir gibt? Schliesslich begegnest du ihnen nur in deiner Wahrnehmung.
- Mit „Sehen“ meinen wir offensichtlich mehr als das, was im Auge passiert. Kannst du das Wissen um die Physiologie des Auges und die Optik abgrenzen vom philosophischen Problem des Sehens?
- Du bist dir sicher, dass Wahrnehmung nicht identisch mit Erkenntnis ist. Aber sie hat doch etwas damit zu tun. Kannst du beide voneinander abgrenzen?
Von der Antike bis zur mittelalterlichen Scholastik wurden meist Abbildtheorien der Wahrnehmung vertreten. „Abbild“ bedeutet, dass du das Gesehene in gleicher Form im Bewusstsein hast.
Diese Theorien bringt aber verschiedene Probleme mit sich. Zum Beispiel müsste dann das, was wir im Geist haben, dem materiellen Gegenstand vollständig ähnlich sein. Das ist aber unwahrscheinlich, weil der Geist etwas ganz anderes ist als die Materie.
Ausserdem sehen wir die Dinge ja immer etwas anders. Wir müssten also viele Bilder in unserem Geist speichern, jedes Bild wäre der Schnappschuss eines Augenblicks. Und ja: Wenn wir etwas sehen – wie lange dauert das? Wie lange dauert der Augenblick, den wir im Geist abbilden, und sollen wir bei dieser unendliche Bilderflut die Übersicht behalten?
Seit der Renaissance wird die Abbildthese zunehmend abgelehnt. Der französische Mathematiker und Philosoph René Descartes hat argumentiert, dass wir ja Portraits und sogar Karrikaturen einem Gesicht zuordnen können, auch wenn sie letzterem nur wenig ähnlich sind.
Lerne jetzt die wichtigsten philosophischen Positionen seit Descartes in kurzen Videos kennen.
René Descartes (1633 / 1637)
Wirkliche Objekte verursachen Bilder auf der Netzhaut, die wiederum die Ursache von Symbolen sind, die der Geist bildet. Wahrgenommen werden also nicht Dinge oder deren Abbilder sondern Symbole.
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John Locke (1690)
Unabhängige primäre und sekundäre Eigenschaften (Grösse, Zahl, Gestalt, Bewegung, Farbe) gelangen durch Sinneserfahrungen in den Geist und liefern dem Verstand das Material für einfache Ideen. Die Dinge („Pferd“) haben keine unabhängige Existenz sondern sind Kombinationen aus einfachen Ideen.
George Berkeley (1710)
Dinge existieren nicht unabhängig sondern sind Ideen, verursacht durch ein unabhängig existierendes Ich-selbst in der Wahrnehmung. Wahrnehmungssubjekt ist der Mensch, beziehungsweise Gott, an dessen Wahrnehmung wir teilhaben.
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Thomas Reid (1764)
Wir nehmen unabhängig existierende Dinge wahr in ihrer Gestalt, Farbe, Position und Bewegung im Raum als natürliche Symbole. Letztere sind, zusammen mit der Überzeugung von ihrer Wirklichkeit, apriorisch gegeben.
Immanuel Kant (1781)
Äussere Gegenstände existieren nicht unabhängig sondern sind uns ausschliesslich in der Sinnlichkeit gegeben. Der Raum ist apriorische Bedingung der Möglichkeit von äusserer Wahrnehmung. Das nicht sinnliche „Ding an sich“ ist ein negativ bestimmter Grenzbegriff, es darf nicht als Ursache des wahrgenommenen Gegenstandes verstanden werden.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1807)
Unabhängige Dinge werden in Form ihrer zusammen auftretenden Eigenschaften (primäre Qualitäten) in einem Bewusstseinsakt wahrgenommen, der ein reines Nehmen ist.
Hermann von Helmholtz (1855)
Unabhängige Qualitäten (Farbe, Form) erregen Nerven und verursachen in ihrer Gleichzeitigkeit Vorstellungen. Diese sind Symbole („Pferd“), die auch Strukturinformationen enthalten, z. B. die Gesetze der Perspektive.
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John Stuart Mill (1865)
Dinge existieren nicht unabhängig sondern sind Schlussfolgerungen aus der Wahrnehmung primärer Qualitäten (Farben, Formen). Der Glauben an ihre unabhängige Existenz wird verursacht durch die Gewissheit von Wahrnehmungsmöglichkeiten, d.h. des wiederholten und wiederholbaren Auftretens von Wahrnehmungen in Gleichzeitigkeit oder bestimmter Folge.
Konrad Fiedler (1887)
Die Frage nach der unabhängigen Existenz der Dinge ist sinnlos. Erregungen der Sinne führen erst im Ausdruck zur Wahrnehmung. Aufnahme und Ausdruck sind an den Leib gebunden. Sprachlicher Ausdruck führt zur Annahme von Gegenständen und deren unabhängiger Existenz. Ausdruck in Form von Werken der darstellenden Künste führt dagegen zur Sichtbarkeit von verschiedenen selbständigen Formen des Seins.
Christian von Ehrenfels (1890)
In der Wahrnehmung erkennen wir spontan Strukturähnlichkeiten („Gestalt“), also mehr als lediglich Qualitäten, wie Farbe und Form.
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Charles Sanders Peirce (1903)
Das Ergebnis von Wahrnehmungen sind Wahrnehmungsurteile (Sätze, Aussagen, Behauptungen), die der Ausgangspunkt kritischen Denkens sind. Wahrnehmung selbst liegt vor dem Urteil, ist deshalb prinzipiell unzugänglich und kein Gegenstand logischen Denkens.
George Edward Moore (1910 / 1953)
Körperliche Vorgänge verursachen Sinnesdaten. Sehen ist ein Bewusstseinsakt, einerseits unmittelbares Erfassen von aktuellen Sinnesdaten und andererseits Anwendung vorhandenen Wissens aus erinnertem Sehen.
Bertrand Russell (1914)
Ein Gegenstand ist identisch mit der Klasse seiner Erscheinungen. Eine eigene Existenz anzunehmen ist unnötig. Sensibilia sind Entitäten, die entweder wahrgenommen werden (dann sind es Sinnesdaten) oder wahrgenommen werden könnten. Sensibilia sind physisch nicht geistig. „Physisch sein“ bedeutet „Etwas sein, womit sich die Physik beschäftigt“. Was das genau bedeutet, bleibt offen.
Edmund Husserl (1925-1926)
Der Leib fungiert als Wahrnehmungsorgan. Durch seine Bewegung entstehen kontinuierliche Übergänge von aktuellen Wahrnehmungen zu möglichen neuen Wahrnehmungen. In diesem Prozess konstituiert sich das Erscheinende (Farben, Flächen) als Gegenstand (als Regel möglicher weiterer Wahrnehmungen), der mehr ist, als wir gerade wahrnehmen und fortdauert, wenn er aus unserer Wahrnehmung verschwindet.
Rudolf Carnap (1932)
Dinge existieren und werden wahrgenommen; Farben und Formen sind dagegen spätere Abstraktionen. Wahrnehmung kann vollständig sprachlich ausgedrückt werden durch eine Protokollsprache. Sätze, die nicht auf die Protokollsprache reduzierbar sind, sind sinnlos.
Alfred Ayer (1940)
Was wir unmittelbar wahrnehmen, ist nicht der materielle Gegenstand. Wahrnehmungsobjekt sind vielmehr Sinnesdaten, die in Beziehung stehen zu materiellen Dingen, von denen wir auf diese Weise indirekt Kenntnis haben.
Maurice Merleau-Ponty (1945)
Nicht weil Gegenstände existieren, nehmen wir diese wahr, sondern weil wir wahrnehmen existieren diese Gegenstände. Weil eine Differenzierung zwischen dem Gegenstand und seiner Wahrnehmung nicht möglich ist, sind Fragen nach den Ursachen unserer Wahrnehmungen oder nach der Übergang von Materie zu Geist sinnlos.
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Curt John Ducasse (1951)
Dinge und Qualitäten existieren nicht unabhängig, sondern sind Modi von Empfindungen. Das lässt sich sprachlogisch zeigen.
Gilbert Ryle (1953)
Was wir sehen hat nichts mir äusseren Dingen oder Ereignissen zu tun sondern ausschliesslich mit Dingen und Ereignissen unseres Innenlebens. Äussere Dinge können nicht Ursache unserer Wahrnehmungen sein, das lässt sich durch die Analyse des Begriffs „Sehen“ zeigen.
Werner Heisenberg (1959)
Die prinzipiellen Unbestimmtheiten und Widersprüchlichkeiten von Quantenphänomenen haben zur Folge, dass das Ideal der Wahrnehmung einer unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit teilweise aufgegeben werden muss.
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David Armstrong (1968)
Die physische Wirklichkeit verursacht direkt unsere Wahrnehmung. Sinnesdaten gibt es daher nicht. Wahrnehmung ist identisch mit den Überzeugungen, die wir uns über die wahrgenommene physische Wirklichkeit bilden.
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Fred I. Dretske (1969)
Sehen ist ohne jedes Wissen, jeden Glauben, jede intellektuelle Betätigung möglich. Diese Art von Sehen ist abhängig davon, was es zu sehen gibt und was wir mit unserem visuellen Apparat und unter den gegebenen Umständen unterscheiden können.
James J. Gibson (1975)
Wahrnehmung ist ein kontinuierlicher Prozess der Extraktion von Information aus der Umwelt. Deshalb kann Wahrnehmung nicht als Erfassen diskreter Abbilder verstanden werden („Schnappschusstheorien“). Verantwortlich für das Ergebnis des Prozesses ist unser gesamtes Wahrnehmungssystem, nicht isolierte Sinnesorgane.
John R. Searle (1983)
Sehen ist ein visuelles Erlebnis, dessen Gehalt ein Gegenstand ist, auf den das Bewusstsein sich ausrichtet. Erst dann, wenn dieser Gegenstand auch in der Wahrnehmung gegeben ist, wird das Erlebnis erfüllt und zugleich verursacht. Der intentionale Gehalt existiert demnach, bevor er verursacht wird.
Nachdem du dir die Überlegungen angeschaut hast, die sich die Philosophen zum Thema Wahrnehmung gemacht haben, wirst du dich vielleicht fragen, wo denn da der Fortschritt ist. Irgendwie scheinen sich die Gedanken immer um die gleichen Fragen zu drehen, ohne so recht von der Stelle zu kommen.
Dies scheint keine Geschichte zu sein nach dem Schema: Wir hatten ein Problem, wir dachten intensiv nach und arbeiteten sehr hart und dann lösten wir das Problem.
Sicher, es gibt unbestreitbare Erfolge.
Descartes‘ Erkenntnis, dass wir in unserem Kopf nicht genaue Abbildungen dessen haben, was wir sehen, hält seit nunmehr 400 Jahren.
Die Überlegungen von Peirce, Russell und anderen, dass die Sprache ein besonders wichtiger Aspekt von Wahrnehmung ist, hat den Blick für die Probleme geschärft und für mehr Präzision in unserer Rede über die Wahrnehmung gesorgt.
Husserl hat gezeigt, dass unsere Überzeugung, Dinge als Ganzes wahrzunehmen, falsch ist. Er hat, wie auch Maurice Merleau-Ponty, konsequenter als andere die vielleicht wichtigste Erkenntnis ausgewertet, die die Menschen bereits im 15. Jahrhundert zur Frage der Wahrnehmung gewonnen haben – die Gesetzmäßigkeiten der Perspektive. Da wir immer nur Teile des Ganzen sehen, kann „das Ding“ nur ein Konstrukt unseres Geistes aber nicht unmittelbarer Wahrnehmung entnommen sein.
Aber ja, dein Eindruck, dass sich die Überlegungen im Kreise drehen, ist nicht ganz falsch. Salvador Dalí soll gesagt haben, dass es keine Probleme gibt, weil es keine Lösungen gibt. Oder war es umgekehrt?
Vielleicht sollten wir uns auch einfach mit Konrad Fiedler darüber freuen, dass wir in der Philosophie – wie in der Kunst – mit jeder neuen Lösung eine neue selbstständige Form unseres Seins entdecken.
Dieser Beitrag und die Videos wurden inspiriert von dem Buch von Lambert Wiesing „Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen“, 2015 erschienen in Frankfurt am Main bei Suhrkamp.